Der Arbeitskräftemangel ist ein Stück weit hausgemacht. Sowohl Frauen als auch Personen im Vorruhestand und über 65-Jährige wären bereit, deutlich mehr zu arbeiten, wenn die Rahmenbedingungen besser ausgestaltet wären, was Tausende neuer Kräfte freisetzen würde. Das zeigt eine repräsentative Untersuchung der Universität St. Gallen im Rahmen des Chancenbarometers 2023. Die Frauen sehen die Hürden hauptsächlich in der fehlenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bei den Älteren sind es mangelnde Lohntransparenz und zu wenig flexible Arbeitszeitmodelle. Gefordert sind neben der Politik die Arbeitgeber:innen, die Bedürfnisse der Arbeitnehmenden ernst zu nehmen. Weiter registriert die Studie einen nochmals erhöhten Handlungsdruck, und dies bei einem seit der Lancierung der Studie erstmals stagnierenden Chancenpotenzial der Schweiz.
Das vierte Schweizer Chancenbarometer der LARIX Foundation. Innovation matters. und der Universität St. Gallen, das heute im Rahmen des Chancentages 2023 in Zürich vorgestellt wird, hat als Schwerpunkt das inländische Lösungspotenzial zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels untersucht. Für Jobst Wagner, Präsident der LARIX Foundation und Unternehmer, zeigen die Ergebnisse: «Die Bedürfnisse von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen weichen noch zu stark voneinander ab und behindern die Mobilisierung des Arbeitskräftepotenzials der Schweiz.»
Die Studienleiterin Prof. Tina Freyburg sieht den Engpass als grosse Chance, die Arbeitswelt zu modernisieren: «Fast 50 Prozent sehen ein grosses Potenzial für positive Veränderungen. Aber auch einen sehr grossen Handlungsbedarf, der sich stark auf fehlende Familienvereinbarkeit bezieht.» Parteien, die in den kommenden Parlamentswahlen für verbesserte Arbeitsbedingungen einstehen, verbessern ihre Wahlchancen deutlich, ist die HSG-Professorin überzeugt.
Die zufriedensten Personen weisen ein Arbeitspensum von über 60 Prozent auf, knapp gefolgt von Vollzeitbeschäftigten. Wer unter 60 Prozent arbeitet, ist hingegen deutlich weniger zufrieden. Das Schlusslicht punkto Zufriedenheit bilden die Familienmanagerinnen.
Was in der Studie ebenfalls zum Ausdruck kommt: Den Arbeitgeber:innen ist es noch nicht richtig gelungen, sich auf das verknappte Arbeitsangebot einzustellen, das vor allem durch die andauernde Pensionierungswelle der geburtenstarken Jahrgänge entstanden ist. Tina Freyburg sagt: «Arbeitgeber:innen werden nicht umhinkommen, sich noch mehr an die Erwartungen der jüngeren Generationen anzupassen und sich umfassend mit neuen Arbeitsformen auseinanderzusetzen.» Für die Generation Z zeigt die Umfrage bereits deutlich, dass sie alles unter einen Hut bringen möchte: Karriere, Familie und Einstehen gegen den Klimawandel.
Weiter bestätigt das Chancenbarometer, dass sich ältere Arbeitnehmende gerne weiterhin im Erwerbsleben engagieren, wenn ihre Tätigkeit zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beiträgt. Allerdings erwarten auch die Älteren eine Flexibilisierung und Individualisierung der Arbeit. Weiter sollte Lohntransparenz gegeben sein, wie die Studie zeigt.
Hürden abbauen sollte auch der Staat, indem er die Reformen des Arbeitsgesetzes in Richtung einer modernen Arbeitswelt vorantreibt und mit einer zivilstandsunabhängigen Individualbesteuerung Menschen motiviert, ihre Arbeit verstärkt anzubieten. Eine weitere Forderung an die Politik ist, mit der Flexibilisierung des Pensionierungsalters vorwärtszumachen. Zusammengenommen haben es Wirtschaft und Politik in der Hand, Tausende neue Arbeitskräfte freizusetzen.
Alles, was dazu beitragen kann, den Mangel an Arbeitsangebot zu bekämpfen, hilft ebenfalls, andere wichtige Herausforderungen anzugehen, erklärt Tina Freyburg: «Durch eine familienfreundlichere, nachhaltigere, flexiblere und individuellere Arbeitswelt können Wirtschaft, Politik und Gesellschaft dazu beitragen, die Geburtenraten zu erhöhen, die Klimaziele zu erreichen, die Digitalisierung voranzutreiben und das Verkehrsaufkommen zu reduzieren.»
Nun zeigt das 4. Chancenbarometer 2023 aber auch, dass die Schweizer:innen das aktuelle Chancenpotenzial des Landes erstmals weniger positiv als im Vorjahr beurteilen, wogegen der Handlungsbedarf zum vierten Mal in Folge weiter angestiegen ist. Für Jobst Wagner ist klar: «Um an der Spitze zu bleiben, muss die Schweiz verstärkt Kräfte freisetzen, um das von unserer Studie aufgezeigte Chancenpotenzial auszuschöpfen.» Beim Schwerpunktthema gelte das ganz besonders: «Wenn anhaltender Personalmangel das an sich mögliche Produktions- und Dienstleistungsangebot einschränkt, stehen die Wachstums- und Wohlstandspotenziale ebenso auf dem Spiel wie die öffentlichen Einnahmen.»