Die Schweizer:innen unterstützen nicht nur die Bilateralen. Sie sind bei einer Neugestaltung der Beziehungen mit der EU offener gegenüber weitergehenden Lösungen als bisher angenommen. Sogar ein aufdatiertes Freizügigkeitsabkommen mit der EU hat eine grosse Chance, wenn spezifische Schutzmassnahmen getroffen werden. Das zeigt eine Untersuchung der Universität St. Gallen im Rahmen des Chancenbarometers 2022. Auch weist diese im Vergleich zum Vorjahr ein um 9 Prozent wachsendes Chancenpotenzial für das Land aus. Herausforderungen wie die EU-Frage, die Klimakrise und die Gesundheitskosten könnten danach offensiver angegangen werden.
Das dritte Schweizer Chancenbarometer der LARIX Foundation. Innovation matters., StrategieDialog21 und der Universität St. Gallen, das heute im Rahmen des Chancentages 2022 in St. Gallen vorgestellt wird, widmet einer künftigen Regelung mit der EU insbesondere bei der Personenfreizügigkeit einen Schwerpunkt. Für Jobst Wagner, Stiftungspräsident LARIX Foundation. Innovation matters. Initiant Strategiedialog 21, zeigt die Umfrage: «Es gibt klare Optionen für eine kreative, konstruktive Regelung der Beziehungen zur EU. Die Politik muss sie nur nutzen.»
Ein aufdatiertes Freizügigkeitsabkommen, das im Einklang mit EU-Regelungen ist, hat realistische Chancen beim Stimmvolk.
Ein Umfrageexperiment zeigt, dass der Schutz vor Arbeitslosigkeit und für arbeitssuchende Personen entscheidend für die Zustimmung zu einem Abkommen ist. Beim Lohnschutz zeigen sich die Schweizer:innen hingegen kompromissbereit, unabhängig von ihren parteipolitischen Präferenzen. Studienleiterin Tina Freyburg, Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft, Universität St. Gallen, sagt: «Mit einer klaren Kommunikation der Konsequenzen einer Status-Quo-Politik der Schweiz sind die Stimmbürger:innen bereit, ihre bisherigen roten Linien in einem Abkommen mit der EU zu überdenken.»
Die Befragung zeigt weiter, dass mit pragmatischen, verhältnismässigen Schutzmassnahmen eine Regelung möglich ist, ohne in Widerspruch zu den vorherrschenden EU-Regelungen zu geraten. Die Studie lässt ebenfalls den Schluss zu, dass eine solche Lösung eine realistische Chance hätte, vom Stimmvolk angenommen zu werden. Für den politischen Prozess empfiehlt Prof. Tina Freyburg der Schweiz, «sich zuerst auf ihre Interessen zu fokussieren und erst dann darüber zu streiten, wie diese in der Beziehung zur EU erreicht werden können.» Eine breite Aufklärung in EU-Fragen ist angesagt, damit die Stimmbevölkerung informiert entscheiden kann.
Die Top 3: Klimakrise, Digitalisierung, Gesundheitsfinanzierung. Die meisten Schweizer:innen sehen hier sehr grosse Chancen.
Das dritte Chancenbarometer bestätigt das Veränderungspotenzial der Schweizer:innen. Die Bereiche, bei denen die meisten Schweizer:innen sehr grosse Chancen zur Bewältigung der Herausforderungen sehen, sind die Klimakrise (36 %), Digitalisierung (29 %), die Finanzierung des Gesundheitssystems (23 %) sowie die Beziehung zur EU (22 %). Bei der Klimakrise wird der grösste Handlungsbedarf gesehen (49 %), gefolgt vom Gesundheitswesen (48 %) sowie der Altersvorsorge (43 %). Fast 80 Prozent der Befragten bestätigen, dass die Bedingungen für die Nutzung von Chancen in der Schweiz grundsätzlich, wenn auch nicht voll und ganz, erfüllt sind. Eine konstruktive Kommunikationskultur sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehen jedoch nur 6 bzw. 8 Prozent als voll gegeben an. Für Jobst Wagner ist klar: «Will die Schweiz an der Spitze bleiben, geht es nur, wenn sie bereit ist, in diese Bereiche zu investieren. Nur so bleibt sie wettbewerbsfähig. Und nur so befähigt sie die Einzelnen, sich für das Gemeinwohl zu engagieren.»