Interview mit Michael Hermann, Politikwissenschaftler und Geschäftsführer Sotomo


Herr Hermann, warum glauben Sie an die Kraft von Daten und Studien? Was fasziniert Sie persönlich daran?

Ich bin ein neugieriger Mensch und suche das Gespräch mit Persönlichkeiten, die anders ticken als ich. Dennoch bewege auch ich mich oft in einer Bubble. Befragungen und Statistiken erlauben es mir, aus dieser Bubble hinauszuschauen. Repräsentative Umfragen helfen mir, ein realistisches Bild der Gesellschaft zu erhalten. Und ganz grundsätzlich finde ich, was gibt es Schöneres als Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten?

Welche Bedeutung messen Sie wissenschaftlichen Daten und Analysen in einer Demokratie bei?

In den sozialen, aber auch in den klassischen Medien sind die Lärmigen und jene mit den klaren Überzeugungen oft viel besser abgebildet als andere. Empirische Daten sind die grossen Entzerrer, die uns helfen, die Wirklichkeit in ihren wahren Proportionen zu sehen. Sie helfen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Dennoch sollte die Politik nicht sich zur Sklavin von Umfrageresultaten machen. In der Politik geht es immer auch darum, Dinge zu tun, die heute noch nicht Mainstream aber dennoch wichtig sind. Dazu braucht es Überzeugungsarbeit.

Warum braucht es in der heutigen Zeit eine Publikation wie den Chancenbarometer? Wie unterscheidet sie sich von anderen Barometern oder Studien?

Es ist die Blickrichtung, die sich unterscheidet. Wie der Name sagt, geht es um Chancen. Es geht um Veränderungspotenzial und die Erweiterung der Möglichkeiten. Gerade in unserer Zeit, in der Pessimismus über das Weltgeschehen derart gross ist, braucht es diese Blickrichtung umso mehr. Wichtig ist dabei allerdings, dass der Chancenbarometer auch dorthin geht und schaut, wo es weh tut. Dort, wo die Stimmung nicht rosig ist.

Wie sehen Sie die Rolle des Chancenbarometers 2024 in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion um das Wachstum der Schweiz?

Für mich ist es ein Meilenstein in der Wahrnehmung von Wachstum und Zuwanderung. Wir haben zeigen können, dass es hier nicht primär um Überfremdungsängste geht. Dass die Schweiz ein Einwanderungsland ist, ist breit akzeptiert. Es ist das Tempo und es ist die Belastung der Infrastruktur, die aktuell viele besorgen.

Welche Veränderungen hat der Chancenbarometer 2024 Ihrer Meinung nach konkret angestossen?

Der Chancenbarometer hat die Richtung der Diskussion verändert. Die Publikation hat gezeigt, dass es um das Tempo des Wachstums geht. Und dass von links bis rechts eine überlastete Infrastruktur wahrgenommen wird. Dies ist mit der Erkenntnis verbunden, dass die Schweizer Bevölkerung viel offener und internationaler ist als je.

Eine Kernerkenntnis aus dem aktuellen Chancenbarometer und Ihre persönliche Einordnung dazu?

Es ist der Begriff der «Wachstumsschmerzen», der für mich die Grundstimmung im Chancenbarometer so gut beschreibt. Der beschreiben soll, dass Wachstum, selbst wenn es etwas Positives ist, schmerzhaft sein kann. Ich habe den Begriff dort das erste Mal verwendet und dann wieder in einem Interview am Abstimmungssonntag, als die Stimmbevölkerung die Autobahn- und die beiden Mietvorlagen versenkte. Alle haben dann diesen Begriff aufgenommen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es ist der Chancenbarometer, der diesen Begriff geprägt hat.

Welche Rolle sehen Sie für den Chancenbarometer, um langfristig den gesellschaftlichen Diskurs in der Schweiz zu fördern?

Es gilt an dem Erfolg von 2024 anzuknüpfen. Es braucht die richtige Mischung zwischen Problembenennung und Aufzeigen von Chancen und Perspektiven, die sich daraus ergeben.

Und zum Schluss noch eine persönliche Frage. Losgelöst vom Chancenbarometer: In einer aktuellen Kolumne berichten Sie über die zunehmende Sehnsucht nach starken Führern. Wie beeinflusst diese Entwicklung Ihr persönliches Verständnis von Demokratie und Führung?

Es ist das Gefühl des Kontrollverlusts. Die Wahrnehmung einer Welt der Krisen und des Chaos. Dieser Eindruck wird wesentlich verstärkt durch die sozialen Medien und Tatsache, dass die Welt durch Globalisierung und Digitalisierung zu einer Megacity geschrumpft ist. Autoritäre Figuren inszenieren sich als jene, die Halt und Orientierung geben. Die Demokratie ist ernstlich herausgefordert und es ist deshalb umso wichtiger, dass es uns wieder vermehrt gelingt, Chancen und Perspektiven aufzuzeigen. Sei es auch nur im Kontrast zur Willkür und Tyrannei, wie sie in autoritären Systemen früher oder später immer entstehen.

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