Prof. Dr. Tina Freyburg, Studienleiterin des Chancenbarometers, im Interview mit dem Online-Magazin Tsüri.
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Tsüri.ch: Das Chancenbarometer wird nun zum dritten Mal durchgeführt und hat sich bereits stark etabliert. Wieso haben Sie dieses Projekt gestartet?
Tina Freyburg: Mit dem Chancenbarometer wollen wir dazu einladen, unsere Aufmerksamkeit auch auf die positiven Ereignisse und unsere Möglichkeiten zu richten und dazu auffordern, Probleme und Risiken nicht nur als Herausforderungen zu begreifen, sondern vor allem auch ihr Potential für positive Veränderungen zu erkennen und zu nutzen. Wir sind davon überzeugt, dass der Blick auf die Chancen die konstruktive Debatte über die politischen Lager hinweg das Erarbeiten von Lösungen erleichtern kann. Wir möchten mit den Resultaten unterschiedliche Stakeholder erreichen, von politischen Entscheidungsträger:innen über Unternehmer:innen bis hin zu Medienschaffenden und schliesslich den Bürger:innen. Wir wollen sie dazu motivieren, Chancen aufzuspüren und sie zu gestalten, Eigeninitiative zu ergreifen, neue Lösungen und Wege zu suchen.
Wie würden Sie denn das aktuelle Denken und Handeln der Politik, aber auch der Bevölkerung und der Medien, beschreiben – wenn nicht chancenorientiert?
Die Ausgangsbeobachtung unseres Engagements für das Chancenbarometer ist, dass Überschriften in Nachrichtensendungen selten positiv sind; auch Politiker:innen tendieren dazu, eine stete Alarmbereitschaft zu verbreiten – auch, um die Dringlichkeit und eventuell Alternativlosigkeit ihres Handelns zu untermauern. So haben wir uns daran gewöhnt, dass ständig über Katastrophen und Krisen berichtet wird, die auf der ganzen Welt passieren. Es ist auch gut und richtig, darüber zu berichten, vor allem auch in einer Zeit, in der sich Krisen nicht ablösen, sondern sich wie tektonische Erdplatten übereinanderlegen und verschieben.
Zuversicht ist jedoch entscheidend für unser individuelles Wohlbefinden und unser gesellschaftliches Engagement. Daher setzen wir uns für einen konstruktiven Journalismus und eine konstruktive Politik ein, also für mehr lösungsorientierte Meldungen und für mehr produktiven Streit über alternative politische Antworten. Unsere Erfahrung mit dem Chancenbarometer bestärkt uns darin, dass Menschen sich ernsthaft für konstruktive und hoffnungsvolle Nachrichten interessieren. Sie wollen zwar sachliche, faktenbasierte Berichterstattung über gesellschaftspolitische Entwicklungen, aber sie lehnen rein negative und krisenfixierte Nachrichten ab. Grundlage dieses chancenorientierten Denkens und Vertrauens sind der Wettbewerb verschiedener Ideen, die Diskussion klarer alternativer politischer Gestaltungsmöglichkeiten und die Möglichkeit der Bürger:innen mitzudenken und sich einzubringen. Hier sind Politik und Medien gefragt, aufzuzeigen, welche konkreten Chancen in den einzelnen Herausforderungen auch stecken und wie diese genutzt werden können.
Sie betrachten ausserdem das Vertrauen der Schweizer Bevölkerung in die Medien und die Politik. Das Vertrauen in die Medien nimmt ab. Überrascht Sie diese Erkenntnis?
Es gibt nicht nur den einen Trend, schliesslich geniessen die Medien bei mehr als der Hälfte der Bevölkerung immer noch hohes Vertrauen. Generell ist es für Demokratien und eine freie Mediengesellschaft typisch und wünschenswert, dass die Bürger:innen nicht nur Politiker:innen, sondern auch Journalist:innen und ihre Arbeit kritisch hinterfragen.
Ich habe aber auch den Eindruck, dass viele Menschen den Medien nicht vertrauen, weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem persönlichen Umfeld ganz anders wahrnehmen als von den Medien dargestellt. Zu den redaktionell organisierten Medien sind in den letzten 15 Jahren ausserdem die digitalen Netzwerke hinzugekommen. Auch wenn dies nur recht wenige Menschen tatsächlich tun, geht es recht einfach, Meinungen direkt und öffentlich ins Netz zu stellen, ebenso Politiker:innen zu kritisieren und zu beschimpfen sowie unmittelbar auf Medienberichte zu reagieren und deren Wahrheitsgehalt zu bezweifeln. Gleichzeitig scheint das Bestreben vieler Menschen gestiegen zu sein, sich nicht mit den zahlreichen Widersprüchen der Welt zu beschäftigen, sondern vor allem Bestätigung zu suchen. Auf diese Weise kann eine Minderheitenmeinung zu einer Grundhaltung werden, die viele für normal halten und von der sie behaupten, sie stehe für die Mehrheit der Bevölkerung.
Wie kann das Vertrauensverhältnis zwischen Bevölkerung und Medien wieder gestärkt werden?
Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die journalistischen Medien gestärkt aus den Krisen herausgehen, da sie ihren Daseinszweck demonstrieren können, nämlich so vollständig, sachlich und verständlich wie möglich informieren, in freier und offener Diskussion zur Meinungsbildung beitragen und durch nachforschenden und aufdeckenden Journalismus Politik und Wirtschaft kontrollieren und kritisch hinterfragen. Schon während der Berichterstattung zur Corona-Pandemie konnte man beobachten, dass der Informationsjournalismus in der Kontextualisierung, Einordnung und Visualisierung von Zahlen und Statistiken einen Sprung nach vorne machte. In der Berichterstattung zum Ukraine-Krieg fällt mir auf, dass Journalist:innen sehr bewusst und explizit deutlich machen, was sie relativ gesichert wissen und eben auch was sie nicht wissen, aber versuchen zu klären. Eine solche Aufrichtigkeit, die auch betont wie wichtig und schwierig sorgfältige Recherche ist, kann das Vertrauen zwischen Mediennutzer:innen und journalistischen Medien fördern. Auch beobachte ich einen recht alarmismusfreien Kurs in den seriösen Medien, der den Wissensdurst der Bevölkerung bedienen und seinem Anspruch an Qualitätsmedien als glaubwürdige Informationsquelle gerecht werden will.
Wichtig erscheinen mir vor allem drei Dinge. Erstens: Medien sollen mehr Vielfalt abbilden. Wenn sie unterschiedliche Positionen aufzeigen und erklären, tragen sie dazu bei, dass wir respektvoll diskutieren und tragfähige Lösungen identifizieren. Zweitens: Medien sollen vermehrt und gezielt auf Chancen und Handlungsoptionen fokussieren, und nicht (nur) auf Risiken. So geben sie uns die Orientierungshilfe, die wir brauchen. Und drittens: Transparenz über ihr eigenes Tun und ihre Finanzierung ist wichtig. So stärken sie ihre Glaubwürdigkeit und fördern das informierte und damit auch kritische Vertrauen der Mediennutzenden.
Sie erkennen also unter anderem die Krise als Chance, in welcher die Medien ihr Vertrauen in der Bevölkerung stärken können. Doch nicht nur Sie erkennen in Krisen Chancen. Die Resultate der letzten Chancenbarometer zeigen, dass gut zwei Drittel der Teilnehmer:innen in vielen Herausforderungen ebenfalls einige Chancen erkennen. Hat Sie das überrascht?
Mich haben diese Resultate vor allem gefreut! Sie bestätigen, dass die positive Grundstimmung in unserem Land dazu genutzt wird weiterhin voller Optimismus in die Zukunft zu blicken. Und die positiven Resultate bestärken uns, den Chancenbarometer regelmässig zu publizieren.
Chancenorientiertes Denken kann einen in Zeiten von Klimakrise und Krieg dennoch schwerfallen. Wie kann ein chancenorientiertes Denken trotzdem gefördert werden?
Indem wir Probleme und Risiken immer wieder aufs Neue als Herausforderungen begreifen. Und in diesen Herausforderungen das Potential für positive Veränderungen erkennen und an diese glauben – an unsere Möglichkeiten, unsere Kraft, Dinge, Situationen zu prägen und zu ändern.
Politik und Medien können den Bürger:innen eine transparente Diskussion schwieriger Szenarien zutrauen – immer entlang der Varianten, wie sich bestimmte Fragen entwickeln könnten. Sei es mit Blick auf die Massnahmen zur Gestaltung der zukünftigen Beziehungen mit der Europäischen Union oder der Klimaerwärmung, um nur ein paar Beispiele komplexer Herausforderungen zu nennen.
Um beim Beispiel der Klimakrise zu bleiben. Haben wir nicht zu wenig Zeit, um uns auf die Chancen zu konzentrieren?
Nein, selbst bei grossen Herausforderungen, die uns als überwältigend erscheinen mögen, haben wir die Gelegenheit uns zu entscheiden, nicht im Status Quo zu verharren, sondern lösungsorientiert zu denken und zu handeln. Gerade mit Blick auf die Klimakrise ist es enorm wichtig, dass wir die Diskussion nicht auf die Fehler der Vergangenheit konzentrieren, sondern auf die Massnahmen für eine Korrektur heute und in Zukunft. Es ist nicht nur positiver, sondern auch wirkungsvoller zu betonen: Es gibt Lösungen, die dazu beitragen, die Krise zu bewältigen. Mach mit! Es gibt Vorbilder, die setzen sich fürs Klima ein. Schliesse dich ihnen an! Politiker:innen müssten mehr über konkrete Massnahmen sprechen, wie sie planen, bestimmte Klimaziele zu erreichen. Dabei ist wichtig, dass je konkreter die Massnahmen sind, desto eher können Menschen die alternativen Angebote politischer Parteien vergleichen und bewerten und sie mit ihrem Alltag in Verbindung bringen.
Die diesjährige Umfrage befasst sich intensiv mit der Europapolitik der Schweiz, konkret mit den bilateralen Verträgen und der Personenfreizügigkeit. Wieso wurde dieser Schwerpunkt gewählt?
Die Personenfreizügigkeit erhitzt regelmässig die Gemüter. Sie wird voraussichtlich innenpolitisch das Thema in der Auseinandersetzung um die Neugestaltung der Beziehungen der Schweiz mit der Europäischen Union sein. Das diesjährige Chancenbarometer will herausfinden, wo die Bevölkerung in der Europafrage aktuell steht und damit Orientierung leisten – mit Blick auf die Verhandlungen; was würde realistischerweise auch angenommen werden von der Stimmbevölkerung und mit Blick auf die Abstimmung; wo besteht Kommunikations- und Aufklärungsbedarf?