Die Zuwanderung lässt sich nicht mehr schönreden. Eine Mehrheit der Bevölkerung lehnt weitere Selbstregulierung ab. Das Einwanderungsland Schweiz benötigt einen Umbau. Das zeigt die repräsentative Untersuchung des Chancenbarometers 2024 mit dem Fokusthema Zuwanderung, durchgeführt vom Umfrageinstitut DemoSCOPE mit über 6’300 Personen aus allen Landesteilen. Ausschlaggebend für diese klare Haltung sind nicht kulturelle Fragen, sondern Engpässe beim Wohnen und der Infrastruktur, die als direkte Folgen der Zuwanderung gesehen und verstärkt erwartet werden. Ein Zuwanderungsstopp wird aber mit 61 Prozent abgelehnt. Weniger Migration wird jedoch höher gewichtet als starkes Wirtschaftswachstum. Positiv werden Regulierungsideen wie Punktesysteme (65 Prozent Zustimmung) oder Zuwanderungsabgaben (53 Prozent) gesehen. Obwohl das Chancenpotenzial des Landes leicht rückläufig beurteilt wird, bestätigt die Umfrage einmal mehr das überdurchschnittliche Vertrauen der Schweizer:innen in die Institutionen des Landes.

Das fünfte Schweizer Chancenbarometer der LARIX Foundation wird heute im Rahmen des Chancentages 2024 an der Universität Luzern vorgestellt. Die jährliche Untersuchung von Chancen und Handlungsbedarf der Schweiz zeigt ein grosses Chancenplus bei der Digitalisierung, dies vor der Energieversorgung und dem Arbeitskräftemangel. Vergleichsweise wenig Chancen werden der Beziehung der Schweiz mit der EU eingeräumt und noch weniger der Zuwanderung/Personenfreizügigkeit, dem Schwerpunktthema in diesem Jahr.

Beim Handlungsbedarf liegen die Finanzierung des Gesundheitssystems, die Zukunft der Altersvorsorge und die Energieversorgung auf den ersten drei Plätzen. Zuwanderung/Personenfreizügigkeit wird gleichauf mit der Klimakrise eingeschätzt, doch es ist das einzige Thema, bei dem die Umfrage im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg des Handlungsbedarfs zeigt. Über fünf Jahre ist er um fast 9 Prozent gestiegen. Nach Parteiennähe aufgeschlüsselt finden alle, dass etwas geschehen muss. Ausgeprägt ist die Zunahme bei GLP-, Mitte- und FDP-nahen Personen, SVP-Nahe sehen eine hohe Dringlichkeit, wogegen SP- sowie Grün-nahe Personen den Handlungsbedarf moderat bewerten.

«Was in der diesjährigen Befragung besonders hervorsticht, ist die hohe Beteiligung der Bevölkerung», betont Petra Sidler, Projektleiterin von DemoSCOPE: «Im Vergleich zu jeweils gut 3'000 bis 4'000 Befragten in den letzten Jahren haben sich dieses Jahr über 6'300 Personen an der Umfrage beteiligt – das Thema der 10-Millionen-Schweiz bewegt.

Obwohl die Aussicht auf eine 10-Millionen-Schweiz wenig Begeisterung auslöst, werden auch positive Aspekte der Zuwanderung, wie erfreuliche Auswirkungen auf Wirtschaftswachstum und Kultur, gesehen. Diesen stehen jedoch zwölf negative Punkte gegenüber, allen voran Wohnen, Verkehr und Umwelt/Klima. Nach Parteipräferenzen zeigen sich von links nach rechts Bedenken, die nach rechts deutlich zunehmen. Positive Punkte sehen linke wie rechte Kreise mit Ausnahme der SVP.

«Die Bevölkerung attestiert unseren Institutionen und der Demokratie ein solides Fundament. Beste Voraussetzungen, um die Beunruhigung wegen der Zuwanderung und die daraus folgenden Hausaufgaben anzupacken», sagt Jobst Wagner, Herausgeber des Chancenbarometers und Unternehmer: «Aus unternehmerischer Sicht nenne ich exemplarisch das Thema Wohnungsbau und Ausbau der Infrastruktur. Dort ist der Bedarf riesig, aber durch Bürokratie und Einspracheverfahren behindert. Diese Probleme sind somit meist hausgemacht und sollten darum leicht lösbar sein.»

Auch wenn für fast alle, mit Ausnahme der Grün-Nahen, die Wirtschaft weiterwachsen soll wie bisher, fühlen sich viele durch die Entwicklung benachteiligt. Zwei Drittel haben den Eindruck, persönlich nicht vom Wirtschaftswachstum der letzten Jahre profitiert zu haben. Die Perspektive einer 10-Millionen-Schweiz beunruhigt 65 Prozent der Befragten, auch wenn die persönliche Betroffenheit meistens tiefer eingeschätzt wird als die Beunruhigung. Wenn sie zwischen weniger Zuwanderung und starkem jährlichem Wirtschaftswachstum wählen müssten, wollen sie im Mittel klar weniger Zuzug aus dem Ausland und nehmen dafür ein moderateres Wachstum in Kauf. Gleichzeitig finden jedoch 56 Prozent der Befragten, dass die Schweiz auch in Zukunft ein ähnliches Wirtschaftswachstum wie in den vergangenen Jahren haben sollte.

Die Befragten befürworten Eingriffe in die Freizügigkeit der Zuwanderung und auch Massnahmen, um das inländische Arbeitspotenzial noch besser ausschöpfen zu können. Dazu gehören etwa die Abschaffung der Heiratsstrafe (63 Prozent Zustimmung) und Entlastungen in der Kinderbetreuung (70 Prozent). Die Flexibilisierung des AHV-Alters befürworten 73 Prozent. Von einem flächendenkendem Mobility-Pricing zur Strassenentlastung wollen hingegen 70 Prozent gar nichts wissen.

«Anders als in den Nachbarländern spielen Ängste in Bezug auf innere Sicherheit und Integration in der Schweiz keine zentrale Rolle», betont Michael Hermann, Gründer Sotomo und Projektpartner Chancenbarometer. «Die Schweiz hat sich zu einer offenen Gesellschaft gewandelt, die jedoch ihren Siedlungs- und Naturraum vom raschen Bevölkerungswachstum belastet sieht.»

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