Viele Menschen igeln sich gerade wieder (oder immer noch) in ihrer Welt ein, kapseln sich ab, verabschieden sich ins Home-Office, wollen nicht mehr nachdenken über die «anderen», fühlen sich umzingelt von Idioten, genügen sich selbst. Viele reden der Spaltung der Gesellschaft das Wort – und tun selbst einiges dafür.
Aber ist die Spaltung der Gesellschaft so schlimm? Ich meine, sie sei auch eine Chance – wenn wir unsere Augen, Ohren und Münder nicht verschliessen. In diesen Zeiten, in denen jeder Mitmensch, ungewollt oder nicht, qua Virusverbreitung zum Mörder werden kann, werden das Land und seine Menschen endlich zur Kenntlichkeit entstellt. Es ist ja nicht so, dass wir nicht geahnt hätten, in Appenzell Innerrhoden ein paar hundert seltsame Vögel zu wissen, die meinen, Blutkrebs mit Tee heilen und ihre Kinder besser als ein ausgebildeter Lehrer unterrichten zu können. Oder dass es in Schwyz nicht wenig Menschen gibt, die lieber Kuhglocken läuten als wissenschaftlich abgestützte Argumente sprechen lassen. Schön, haben wir jetzt Gewissheit.
Aber diese Gewissheit, dass der andere auch anders ist, sie ist uns unangenehm nahe gerückt. Etwa wenn ein Mensch, den man seit Jahren einen Freund nennt, einem am Ende eines vertrauten Abends mitteilt, er könne auf eine Impfung verzichten, das machten «ja schon genug andere». Dann redet und redet man – und dringt doch nicht durch. Man erlebt Ehen, die an der Impffrage (und manchmal auch zu viel plötzlicher Nähe) zerbrechen.
Ja, jetzt lernen wir unsere Heimat besser kennen, als uns manchmal lieb ist. Dieses Land hat seine Bruchlinien seit Jahrzehnten mit Geld zugepflastert. Wir können uns ein Sozialversicherungssystem, ein Gesundheits- und ein Bildungswesen leisten, das weltweit Seinesgleichen sucht. Jetzt lüftet das Virus den Wohlstandsmantel, den wir über alles gebreitet haben. Und wir sehen mit Schrecken, wie schlecht es um vieles bestellt ist. Wie viele Menschen brutal einsam, krank und hilfebedürftig sind. Wie unterschiedlich gedacht und gehandelt wird, in den Kantonen, den Landesteilen, zwischen Stadt und Land.
Jetzt, wo es um wahre Solidarität ginge, müssen wir feststellen, dass sich der Einzelne immer selbst am nächsten ist. Dass die eigene Freiheit offenbar für viele nur darin gründet, dem anderen die Folgen der eigenen Lebensweise aufzudrängen. Bislang konnten wir offenbar auch diesen Mangel mit viel Geld mehr oder weniger wettmachen. Wir lebten ganz gemütlich nebeneinander her. Das Virus präsentiert uns die nackte, ernüchternde Wahrheit. Und das hat auch sein Gutes.
Corona zeigt uns auch die Mängel einer politischen Tradition auf, die verzweifelt versucht hat, mit der Kunst des Kompromisses und der unbedingten Rücksichtnahme auf Teufel komm raus zu agieren. Das Ergebnis ist ein zögerliches, ängstliches und defensives politisches Management der Krise. Wir warten immer so lange, bis es nicht mehr anders geht. Der autonome Nachvollzug scheint Teil unserer DNA geworden zu sein.
Hätte man die Menschen zum Beispiel aktiv zur Impfung eingeladen, Termin inklusive, und nicht darauf gewartet, dass sich die lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger vielleicht irgendwann dazu bequemen, hätte man früher eine dritte Impfung angeboten, wir hätten mit Garantie eine viel höhere Impfquote. Und mehr Freiheit. Aber man setzte auf die hehre Tradition der Eigenverantwortung. Und scheute sich davor, zu verlangen, dass jeder die Konsequenzen seiner unsolidarischen Lebensweise auch selbst tragen muss. Je weicher politisch dieser Pandemie begegnet wird, umso härter sind die Vorwürfe, wir lebten in einer Diktatur. Ist unsere Angst vor der Spaltung nichts mehr als Feigheit, auch vor denen Haltung zu bewahren, die nicht mehr unsere demokratischen Werte teilen?
Die Spaltung der Gesellschaft wird kein Thema mehr sein, wenn die Pandemie, irgendwann, vorbei sein wird. Die «Freiheitstrychler» werden so schnell verschwunden sein wie die «gilets jaunes» in Frankreich – weil es keinen gemeinsamen Nenner mehr gibt, unter dem sich die Versprengten des Geistes versammeln können. Aber die Bruchlinien werden nicht verschwunden sein, nur weil wir sie nicht mehr medial aufbereitet präsentiert bekommen. Nutzen wir die Zeit, die uns bis dahin bleibt für eine ehrliche Auseinandersetzungen mit unseren Defiziten.