Petra Sidler, Projektleiterin und Data Analystin DemoSCOPE AG, erklärt die Entwicklung und Bedeutung des Chancenbarometer 2024


Was sind die essenziellen Grundlagen für eine erfolgreiche wissenschaftliche Publikation?

Grundlegend für eine wissenschaftliche Publikation ist das Vorgehen nach wissenschaftlichen Methoden und Standards. Auf dem Stand der heutigen Wissenschaft beinhaltet dies mehrere Schritte: eine klare Forschungsfrage, die Recherche des aktuellen Wissenstandes, die Formulierung von testbaren Hypothesen, die Wahl der geeigneten Methode / Datenerhebung, die Datenanalyse und -interpretation, die Konklusion und schliesslich die Kommunikation der Ergebnisse.

Für mich gehört zudem eine gute Portion Selbstreflektion und Diskussion dazu, weil Studienautor:innen auch Menschen mit eigenen Weltansichten sind und wir Menschen unsere eigenen Weltansichten gerne bestätigt bekommen. Als gelungen würde ich eine wissenschaftliche Publikation dann bezeichnen, wenn in ihr diese Arbeitsschritte und allfällige Schwierigkeiten transparent dokumentiert und die Studienerkenntnisse gekonnt in den gesellschaftlichen Kontext eingebettet, reflektiert und verständlich kommuniziert werden. So können Gesellschaft, Politik, Wirtschaft sowie Wissenschaft davon lernen und im besten Fall konkrete Punkte weiterentwickeln.

Wann ist eine Publikation erfolgreich? Was bewirkt sie im besten Fall?

Bei einer Publikation sind immer unterschiedliche Interessensparteien beteiligt – daher stellt sich mir die Frage: erfolgreich für wen? Wer will damit was genau bewirken? Im konkreten Fall des Chancenbarometers sähe ich den Erfolg der Publikation 2024 darin, wie stark es ihr gelingt, den Chancenblick auf das Thema der „10-Millionen-Schweiz“ aufzuzeigen und Menschen mit unterschiedlichen Ansichten in einen Austausch dazu zu bringen. Ein Chancenblick hört sich abstrakt an, aber in jeder Herausforderung oder Krise steckt auch das Potenzial zu einer positiven Veränderung, die wir als handlungsfähige Menschen und Gesellschaft aktiv suchen können. Selbstverständlich stellt sich auch hier wieder die Frage – eine positive Veränderung für wen? Und was bedeutet eigentlich „positiv“? Deshalb würde ich das Chancenbarometer daran messen, wie verständlich es Chancen aufzeigen und wie stark es eine Diskussion entfachen und unterschiedlichste Menschen zu dieser Diskussion einladen kann. Denn wenn nur ein Teil der Gesellschaft über Herausforderungen und Chancen diskutiert, gehen leider viele Perspektiven verloren…

Warum braucht die Schweiz das Chancenbarometer?

Aus einer Datenperspektive erhebt das Chancenbarometer einmalige Datensätze, dank welchen die Veränderung der Einstellungen der Bevölkerung in der Schweiz zu aktuellen Herausforderungen und Chancen über die Zeit hinweg aufgezeigt werden können. Es ist also eine Art Puls-Messung, welche Themen gerade als besonders herausfordernd und welche als besonders chancenreich angesehen werden. Schlussendlich ist es eine Frage der Definition – aber aus meiner Sicht sind Herausforderungen und Chancen keine Gegensätze und wiegen sich nicht gegenseitig auf: Ein Thema kann genauso stark als Herausforderung wie auch als Chance angesehen werden. Nur auf Herausforderungen oder nur auf Chancen zu fokussieren, wäre einseitig und würde den komplexen Themen nicht gerecht – denn Herausforderungen bringen Chancen, und Chancen bringen Herausforderungen. Somit trägt das Chancenbarometer dazu bei, dass gerade bei herausfordernden Themen der Chancenblick nicht vergessen geht. Jede Gesellschaft und gerade eine Demokratie ist regelmässig mit Herausforderungen konfrontiert und kann somit Einsichten in die Chancenblicke der Bevölkerung und die dazugehörigen Handlungsempfehlungen nur zu gut gebrauchen.

Nach welcher Methodik wurden die Daten für das Chancenbarometer 2024 erhoben?

Die Daten haben wir über eine online Umfrage gesammelt, die über mehrere Kanäle (Social Media, Newsletter, watson-Artikel, DemoSCOPE-Community, etc.) gestreut wurde. Es handelt sich um eine nicht-zufällig gezogene Stichprobe, was bedeutet, dass nicht jede Person dieselbe Wahrscheinlichkeit hatte, an der Umfrage teilzunehmen. Logischerweise hatten Personen, die über die genutzten Kanäle erreichbar waren, eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie in der Stichprobe landen, als Personen, die z.B. keinen Internet-Zugang haben. Um diesem Effekt entgegenzuwirken, haben wir die Stichprobe dann via Propensity-Score-Gewichtung an die Schweizer Grundgesamtheit angeglichen.

Die „10-Millionen-Schweiz“ wird bereits seit einiger Zeit breit diskutiert. Warum fokussiert sich das Chancenbarometer 2024 auch auf dieses Thema?

Das Chancenbarometer bietet die einmalige Möglichkeit, gerade bei Themen, die als gesellschaftliche Herausforderungen diskutiert werden, zusätzlich die Chancenblicke in der Bevölkerung einzuholen. Insbesondere dann, wenn ein Thema in der Bevölkerung mit Emotionen wie Angst in Verbindung gebracht wird, würde ein einseitiger Blick nur auf Herausforderungen oder nur auf Chancen der Realität nicht gerecht. Gerade bei der Angst tendieren wir alle noch zu einer fight-freeze-flight-Reaktion und umso wichtiger ist es, dass Handlungsempfehlungen nicht angstvoll, sondern auf Basis einer Analyse der Herausforderungen und Chancen aktiv entworfen werden.

Die Umfrage der diesjährigen Publikation wurde eben abgeschlossen. Mehr als 6‘300 Schweizer:innen haben daran teilgenommen. Das sind rund 60% mehr als in den vergangenen Jahren. Chance oder Herausforderung?

Aus einer Datenperspektive bedeutete die hohe Teilnahmezahl klar beides: die Rechenleistung unseres Servers war mehrmals während bis zu 17 Stunden mit der Datenanalyse herausgefordert – aber dank der ausgewählten statistischen Analysemethode haben wir vielfältige Chancenblicke herausarbeiten können. Die über 6‘000 Teilnehmenden lassen sich nämlich in fünf latente Chancentypen kategorisieren, die die Herausforderungen und Chancen, die eine 10-Millionen-Schweiz mit sich bringen kann, unterschiedlich einordnen. Gewisse Chancentypen tendieren dazu, in erster Linie Chancen oder Herausforderungen zu sehen, aber die Mehrheit sieht unterschiedliche Kombinationen dieser Chancen und Herausforderungen und legt unterschiedliche thematische Schwerpunkte. Aber mehr dazu dann in der Publikation, es wird spannend…

Nun geht’s ans Auswerten, Aufbereiten und Darstellen der Ergebnisse.  Wie gewinnt man aus einer so umfangreichen Datenmenge Kernerkenntnisse? Wie lassen sich daraus konkrete Handlungsempfehlungen ableiten?

Wir haben das Maximum Difference Scaling (Max-Diff) und die latente Klassenanalyse (LCA) kombiniert und so u.a. analysiert, wie die befragten Personen insgesamt 20 von uns definierten Herausforderungen und Chancen einer „10-Millionen-Schweiz“ in Bezug aufeinander priorisieren (Max-Diff). Auf Basis des Antwortverhaltens wurde dann durch die LCA eine Typologisierung erstellt. So haben wir fünf unterschiedliche Chancentypen gefunden, die diese 20 Herausforderungen und Chancen unterschiedlich bewerten.

In einem weiteren Schritt haben wir diese fünf Typen bezüglich sozio-demographischen Unterschieden sowie deren Einschätzungen z.B. zur eigenen Betroffenheit einer „10-Millionen-Schweiz“ und deren Meinungen z.B. zu spezifischen Politikmassnahmen bezüglich einer „10-Millionen-Schweiz“ untersucht. Das bedeutet, dass wir bei der Bevölkerung der Schweiz nicht nur deren Zustimmung oder Ablehnung zu unseren vorformulierten Fragesätzen abgeholt und Mittelwerte analysiert haben, sondern dass wir zusätzlich datengetrieben latente Chancentypen definieren konnten. Indem diesen fünf Chancentypen auf den Puls gefühlt wird, können in einem weiteren Schritt konkrete Handlungsempfehlungen formuliert werden.

Deine persönlichen Erwartungen ans Chancenbarometer 2024?

Ich wünsche mir, dass das Chancenbarometer 2024 das Thema der „10-Millionen-Schweiz“ gekonnt in den gesellschaftlichen Kontext einbettet und so die Faktoren der Migrationsbewegungen, der sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen, der weltweit fallenden Geburtenraten, der alternden Bevölkerung und der Bevölkerungsschrumpfung miteinbezieht. Zudem erhoffe ich mir, dass das Chancenbarometer zu Diskussionen bezüglich der Auswirkungen des Bevölkerungswachstums auf die Umwelt, die Infrastruktur, das Soziale sowie die Wirtschaft beiträgt. Und schliesslich, dass sich dank des Chancenbarometers inspirierende, aber auch praktisch anwendbare Chancenblicke und gerne auch konfrontative Dialoge ergeben.

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