Die Schweiz ist voller Geschichten, Ideen und Inspirationen: Voller Charakterchöpf. Ein Charakterchopf ist jeder auf seine eigene Art und Weise. Es sind Leute wie Sie und ich. Jeder bringt seine Geschichte und seine Ideen mit, die inspirieren und berühren können. Was bewegt unsere Gesellschaft? Was wünschen wir uns? Worin sind wir besonders gut und was können wir noch besser machen? Charakterchöpf lassen uns an ihren Gedanken teilhaben und geben wertvolle Impulse.
Im Januar 2021 teilen uns drei Charakterchöpf offen und ehrlich ihre Gedanken zum Thema «Die Ehe für alle kommt. Wo dürfte die Schweiz ebenso fortschrittlich denken?» mit.
Die Beiträge sind von den Autor:innen selbst geschrieben, damit ihre Meinung unverfälscht und authentisch präsentiert wird.
Auf Twitter, Facebook und in unserer Instagram-Story kann während 24 Stunden für den Charakterchopf des Monats gestimmt werden:
Unsere Charakterchöpf
«1291 wurde die Schweiz gegründet: Neutral, unabhängig, gerecht und demokratisch. So falsch und verkürzt diese Geschichte auch ist, sie ist gefühlt die Identität der Schweiz. Es fehlen die Umbrüche in Wirtschaft, sozialem Zusammenleben und Kultur, es fehlen die dunklen Kapitel und die Durchbrüche, die Kämpfe um das Frauenstimmrecht. Wie soll die Schweiz progressiv sein, wenn sie das Gefühl hat, dass zwischen Rütli-Schwur und heute kein Umbruch nötig war? Die Schweiz muss bereit sein, der Klimakrise mutig entgegenzutreten, die Digitalisierung nicht passieren zu lassen, sondern mitzubestimmen. Die Demokratie weiter entwickeln, für soziale Gerechtigkeit kämpfen und bereit sein, dass sich Macht verschiebt. Kurz: Sie muss über die grossen Ideen unserer Zeit streiten, sich irren, sich verändern und handeln.
Es braucht dringend ein neues Narrativ der Schweiz, dass die Veränderungen der Vergangenheit würdigt und anspornt die Herausforderungen der Zukunft anzunehmen!»
Philippe Kramer, Junior Campaigner Public Beta
«Die Ehe für alle wurde in den letzten Jahren zu einem Sinnbild des gesellschaftlichen Fortschrittes. Deren Einführung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung von allen Menschen. Doch Fortschritt wird definiert als positiv bewertete Weiterentwicklung, als Erreichung einer höheren Stufe einer Entwicklung. Das bedeutet auch, dass ein Ende eines Fortschrittes nicht erreicht werden kann – ja nicht erreicht werden sollte!
Ein Wandel geht weiter und nimmt Schritt für Schritt die nächsthöhere Stufe in Angriff. Die Ehe für alle ist zweifelsfrei ein historischer Schritt auf diesem Weg, doch er sollte der Schweiz lediglich als Anreiz dienen, weiterhin auf allen Ebenen fortschrittlich zu denken. So komme ich zum Schluss, dass Fortschritt kein «hier und jetzt», sondern ein «weiterhin und überall» bedarf, denn um das geht es bei Fortschritt!»
Jan Müller, Vorstand Pink Cross
«Die Familienmodelle haben sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt: Während in den 1970er Jahren bei drei Viertel der Familien mit kleinen Kindern ausschliesslich der Vater einer Erwerbstätigkeit nachging, ist dies heute nur noch bei rund jeder fünften Familie der Fall. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist also stark gestiegen – jedoch sind die Arbeitspensen nach wie vor tiefer als jene der Männer. Das Schweizer Steuersystem ist ein Hindernis im Wandel hin zu einem höheren beruflichen Engagement der Frauen. Denn die gemeinsame Veranlagung der Ehepaare führt dazu, dass das Einkommen der Frauen – in der Regel sind sie die Zweitverdienenden – zu einem deutlich höheren Steuersatz besteuert wird als dies bei einer individuellen Veranlagung der Fall wäre. Dadurch lohnt sich eine Pensumserhöhung für verheiratete Frauen finanziell oft nicht.
Ein Steuersystem, das auf traditionellen Rollenbildern beruht und für verheiratete Frauen den Anreiz setzt, nicht oder nur in tiefen Pensen erwerbstätig zu sein, ist nicht mehr zeitgemäss. Mit der Einführung der Individualbesteuerung könnten die negativen Erwerbsanreize im Steuersystem deutlich gesenkt werden. Für eine bessere Gleichstellung am Arbeitsmarkt und eine egalitärere Rollenaufteilung brauchen wir ein fortschrittliches Steuersystem, das Frauen nicht an der Ausweitung der Erwerbstätigkeit hindert. Zudem sollte das Potenzial der vielen gut ausgebildeten Frauen in der Schweiz nicht aus steuerpolitischen Gründen ungenutzt bleiben. Es ist also höchste Zeit für einen Wechsel von der gemeinsamen zur individuellen Besteuerung.»
Valérie Müller, Senior Researcher, Avenir Suisse