Die Füsse sind ruhig und sicher auf einem Vorsprung platziert, die ausgestreckten Arme halten den Körper nah am Fels. Die Hände tasten nach dem nächsten Halt. Geschickt zieht sich die Kletterin die hohe Felswand hinauf, sichert sich mit dem Seil in der nächsten Expressschlinge. Sie grinst hinunter zu ihrem Sicherungspartner und hinüber zu den Kollegen an der Wand. Sie teilen nicht nur ihre Leidenschaft, sondern sind sich auch äusserlich ähnlich: Seil, Gurt, Helm, Kletterschuhe und jede Menge Tannenbäume. Tannen auf den Pullovern, Tannen auf den Trinkflaschen und vor allem Tannen auf den Mützen. Die bunten Beaniemützen mit dem Tannenbaumlogo sind ein fester Bestandteil ihrer Ausrüstung. So geht es nicht nur Kletterern, sondern Hunderten anderer Menschen auch. Längst sind die Tree-Beanies, kurz Treeanies, Kult. Sie stehen für Sportkleidung, für Ökofashion, für Hipsterwear. Sie repräsentieren coole Nachhaltigkeit und jenen kleinen Schritt in eine bessere Zukunft. Und für zwei Aargauer stehen sie für die wahrscheinlich grösste Geschichte ihres Lebens.
Es ist die Geschichte von Robin Gnehm und Nicholas Hänny, die vor über vier Jahren in einem Pub in der Lenzburger Altstadt begonnen hat. Dass sie irgendwann gemeinsam ein Projekt realisieren, stand für die beiden Jungunternehmer schon lange fest. Im Oktober 2016 beschlossen der damals 25-jährige Hänny und der 24-jährige Gnehm, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Mit einem Logo im Kopf und der Vorstellung eines Produktes gründeten sie ihr eigenes Unternehmen. »Wir haben ein Bierchen getrunken und dann ist megaviel daraus geworden«, erzählt Hänny. Mega viel heisst in diesem Fall »Nikin«. »Tree by Tree« lautet ihr Motto. Denn Baum für Baum möchten sie die Welt zu einem grüneren Ort machen. Für jedes verkaufte Produkt spenden sie einen Dollar an die amerikanische Organisation »One Tree Planted«, die überall auf der Welt Bäume pflanzt, wo sie zuvor durch Landwirtschaft, Holzindustrie oder Waldbrände gerodet wurden.
Nach jenem 20. Oktober, als Gnehm und Hänny ihr erstes Produkt planten, vergingen nur gerade sechs Wochen, bis sie ihre ersten Treeanies in den Händen hielten. Dass sie mit den Einnahmen von Nikin über eine Million Bäume pflanzen würden, konnten die beiden damals nicht ahnen – und können es noch heute kaum fassen. »Ich bin stolz und verspüre grosse Freude, aber es ist auch unfassbar. Wenn ich mir ansehe, wo wir heute stehen, ist das für mich ziemlich surreal«, sagt Hänny überwältigt. Zu den Mützen sind unterdessen viele weitere Kleidungsstücke und Accessoires dazugekommen. Bei den seltenen Outletverkäufen – Nikin-Produkte können sonst nur online bestellt werden – stehen Tannenbaumfreunde über eine Stunde in der Schlange. Für diesen Erfolg wurden Nicholas Hänny und seine Frau Carla Gonzaga, die Finanzchefin von Nikin, und Robin Gnehm im Jahr 2021 vom englischen Wirtschaftsmagazin »Forbes« auf die Liste »30 under 30« zu den erfolgreichsten Jungunternehmern Europas gesetzt.
Zwei Naturburschen auf der Reise zur Nachhaltigkeit
Trotz vieler Erfolge und grossem Sortimentszuwachs hat die Treeanie-Mütze eine besondere Bedeutung. »Es ist das Produkt mit der längsten Geschichte. Mit ihr haben wir die meisten Meilensteine erreicht«, beginnt Gnehm. Die erste Lieferung, 60 Treeanies in drei verschiedenen Farben, stammte aus Asien. »Wir müssen ehrlich sagen: Zu Beginn hatten wir noch keinen Nachhaltigkeitsgedanken bezüglich unserer Materialien «, gibt er zu.
Naturburschen hingegen, das seien sie beide schon immer gewesen. Aufgewachsen sind Gnehm und Hänny zusammen. »Wir nennen uns Cousins, obwohl wir nicht blutsverwandt sind«, so Hänny. Und Gnehm ergänzt: »Sie haben uns schon gemeinsam im Kinderwagen herumgeschoben.« Ihre Eltern sind gut befreundet, Gnehms Vater ist der Götti von Hänny. Und obwohl sie nicht in der gleichen Pfadi gewesen sind – Robin ist in Boniswil und Nicholas in Lenzburg aufgewachsen –, hätten ihre Leiter oft gemeinsame Lager und Aktivitäten geplant. Dann waren Robin und Nicholas als Simba und Zazou in den Wäldern unterwegs. Bei der Erinnerung an ihre Pfadinamen muss Gnehm herzlich lachen. Er hebt die blaue Treeanie von seinem Kopf, zeigt seinen orangebraunen Haarschopf und erzählt: »Früher hatte ich lange Haare, eine Riesenmähne. Deshalb nannten sie mich Simba. Nici wurde ohne Absprache in seiner Pfadi Zazou getauft, wie der Vogel ebenfalls aus ›Lion King‹.«
Die Abenteuer in der Pfadi haben bei ihnen ein Bewusstsein für die Umwelt geweckt. »Die Pfadi und die Fötzeli-Aktionen in der Schule«, ergänzt Hänny. Später habe ihm das Reisen die Augen geöffnet. »Als ich sah, wie viel Abfall am Strand in Thailand liegt, habe ich gemerkt: Shit, das Problem ist viel grösser als die Kaugummis und Zigistummel an Schweizer Bahnhöfen.« Ihr Lebensstil habe sich durch Nikin verändert. »Extreme Nachhaltigkeitsfreaks« seien sie nie gewesen und würden es wahrscheinlich auch nie werden. »Aber überall, wo wir können, probieren wir, uns zu verbessern«, versichert Gnehm. »Wir wollen dazu beitragen, dass die Masse einen Schritt macht und ein bisschen nachhaltiger lebt. So erreichen wir viel mehr als Einzelne, die eine totale Nachhaltigkeit leben.« Er selbst kaufe praktisch keine PET-Flaschen mehr. Hänny lebt einen Mix aus bio, vegan und Nachhaltigkeit, gönnt sich aber ab und zu auch »normale Sachen«. »Wir versuchen, vernünftig zu handeln. Wenn jeder bewusst an die Natur denkt und sich in seinem Rahmen verbessert, hat das einen riesigen Effekt«, so Gnehm.