Agota Lavoyer sitzt auf der Terrasse eines dunkelroten Mehrfamilienhauses in Mittelhäusern, 20 Zugminuten von Bern. Das Haus liegt in einem ruhigen Familienquartier. Politikplakate an den Fenstern weisen auf eine linke Nachbarschaft hin, Kinder spielen auf den unbefahrenen Strassen und in den Gärten. Es ist ein idyllischer Ort, und es wäre einfach, sich hier ein unbekümmertes Leben einzurichten. Doch das ist nicht Lavoyers Art. Sie arbeitet bei der Opferhilfe und kämpft jeden Tag gegen sexualisierte Gewalt in der Schweiz.
Die warme Märzsonne scheint Agota Lavoyer ins Gesicht, sie richtet ihre runde Sonnenbrille und nimmt einen Schluck Kaffee. Es ist eine turbulente Zeit, die 40-Jährige befindet sich gerade inmitten eines beruflichen Umbruches. Seit fünf Jahren arbeitet Lavoyer als stellvertretende Leiterin und Beraterin bei der Opferhilfestelle Lantana, die zur Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern gehört. In ein paar Tagen wird sie eine neue Stelle als Leiterin der neu geschaffenen Opferhilfestelle in Solothurn beginnen. Dort baut sie die Fachstelle neu auf, damit diese in vier Monaten eröffnet werden kann.
Neben ihrer Arbeit bezeichnet sich die ausgebildete Sozialarbeiterin selbst als Netzaktivistin. Lavoyer will aufklären, sensibilisieren und enttabuisieren. Ihre Forderungen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt lassen sich in etwa wie folgt zusammenfassen: »Schritt eins: Jenen zuhören, die mutig und stark genug sind, sich öffentlich zu äussern. Schritt zwei: Selbstreflexion – Was habe ich getan, was kann ich heute verbessern? Schritt drei: Darüber sprechen. Mit Kolleginnen, Freunden, den eigenen Kindern, der nächsten Generation. Und wichtig für alle: Wir müssen die Mythen in unseren Köpfen erkennen und überwinden. Wenn wir das schaffen, haben wir schon viel erreicht.«
Doch so einfach ist es in der Realität für Lavoyer leider nicht. Die immer wieder zermürbenden Diskussionen im beruflichen wie privaten Umfeld frustrieren sie: »Die Leute fragen mich: ›Wie kannst du diesen Job machen und dich jeden Tag mit Gewalt auseinandersetzen?‹, doch viel herausfordernder als mein Beruf sind die Gespräche im Umfeld.« Die Ignoranz vieler Menschen macht sie wütend. Damit sich diese Gefühle nicht stauen, sei das politische Engagement sehr hilfreich. »Es ist mein Ventil neben der Arbeit und den Kindern, um die Emotionen in der Hoffnung rauszulassen, dass es etwas bewirkt. Dass immer mehr Menschen sensibilisiert sind und mithelfen wollen, etwas gegen sexualisierte Gewalt zu tun. Andererseits bin ich wütend, Punkt. Ich finde, Wut ist die einzig adäquate Reaktion auf all das, was passiert.«
In Agota Lavoyers Augen ist die Gesellschaft noch nicht sehr weit bei diesem Thema. Das, obwohl viele in der Schweiz das Gegenteil glauben. Mythen würden weiterhin zementiert werden, allerdings werden sie in eine Sprache verpackt, die heute sozial akzeptierter sei: »Die meisten haben verstanden, dass Sätze wie ›Kein Wunder, wird sie vergewaltigt, so wie sie sich anzieht‹, heute nicht mehr gehen. Aber meine Mutter sagt mir noch immer: ›Geh nicht joggen, wenn es dunkel ist.‹ Und wenn ich es doch tue und etwas passieren würde, würde sie wohl sagen: ›Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht joggen gehen‹ – und das ist dasselbe in Grün. Gut gemeint und für viele nicht mehr als ›Victim Blaming‹ erkennbar.« Beim sogenannten »Victim Blaming« nimmt die Gesellschaft eine Täter-Opfer-Umkehr vor. Das bedeutet, dass nach einer Tat die Fehler beim Opfer statt beim Täter gesucht werden.
»Wir sind es uns nicht gewohnt, über intime Dinge und Sexualität zu sprechen. Das ist total hinderlich, um in dieser Thematik gesellschaftlich weiterzukommen. Solange wir nicht über Sexualität sprechen, können wir auch nicht über sexualisierte Gewalt sprechen. Viele zucken schon zusammen, wenn man das Wort ›Penis‹ in den Mund nimmt. Gerade in fachlichen Gesprächen mit Politikerinnen und Politikern ist das schwierig. Dort spricht man nicht über Sex, Vulva und Penetrieren. Doch dem können wir nicht ausweichen, wenn wir sexualisierte Gewalt bekämpfen wollen. Bei der Diskussion rund um die Änderung des Sexualstrafrechts beispielsweise stossen wir an Grenzen, wenn wir die sexuellen Handlungen nicht konkret benennen. Man muss klare Beispiele vorlegen, erklären können, wie eine Vergewaltigung ohne rohe Gewalt abläuft, damit Leute verstehen, dass dies wirklich massive Übergriffe sind.«
Eine Gesetzesänderung muss her
Die Änderung des Strafgesetzes in der Schweiz ist ein besonderes Anliegen für Lavoyer. Heute kann in der Schweiz ein Täter nur wegen Vergewaltigung verurteilt werden, wenn er physische oder psychische Gewalt anwendet oder androht. Zudem hält Artikel 190 des Schweizer Strafgesetzbuchs fest, dass nur eine vaginale Penetration als Vergewaltigung gilt. Im Umkehrschluss ist also erzwungene anale oder orale Penetration »nur« eine sexuelle Nötigung. Das will Lavoyer ändern.
»Ich wünsche mir, dass eine Vergewaltigung dann als Vergewaltigung gilt, wenn es nicht einvernehmliche anale, vaginale oder orale Penetration ist. So sind alle Geschlechter eingeschlossen. Die Tatsache, dass es nicht einvernehmlich war, muss in den Vordergrund gerückt werden und nicht, ob es zu einer Gewaltanwendung kam. Natürlich kann man abstufen: Wer eine Person bei einer Vergewaltigung fast umbringt, soll höher bestraft werden können. Dafür gibt es auch heute schon genügend Möglichkeiten im Strafgesetzbuch. Heute klären wir in Schulen über sexualisierte Gewalt auf und müssen gleichzeitig sagen: So ist es, aber im Gesetz steht etwas anderes. Man darf den Willen einer Person nicht übergehen, tut man es trotzdem, ist es nicht in jedem Fall strafbar.«