Es ist früh am Morgen. Scheue Sonnenstrahlen brechen vereinzelt durch die dichten Häuserreihen des Stadtkerns von Altdorf. Noch sind sie zu schwach, um zu wärmen, und doch stark genug, um den Rathausplatz in ein sanftes Frühlingslicht zu tauchen. Nur das aufgeweckte Zwitschern kleiner Spatzen ist zu hören, ein fröhliches Konzert. Ginge man gedankenversunken an dieser morgendlichen Idylle vorbei, so würde man wohl die schmale Gestalt, die neben dem grossen Denkmal steht, übersehen.
Drei Personen haben sich an diesem Morgen auf dem Platz versammelt. Zwei sind aus Bronze und stehen in ihrer Dauerhaftigkeit auf einem Sockel. Ihre Geschichten sind so bekannt, dass sie fast lebendig wirken. Die dritte Person bewegt sich, ist aber nicht viel mehr als eine Idee, ihr Gesicht im Schatten der Statue verborgen. Ein Name, vielleicht der richtige, vielleicht nicht. Eine Frau, die nur als Anhang einer bedeutenden Geschichte bekannt ist: Hedwig Tell. Die Geschichte – es ist eine, die wir alle kennen. Ein Wort vorneweg: Apfel. Gross, rund, grün, oder vielleicht rot? Die Farbe ist, wie so viele andere Details auch, Sache der Interpretation einer kollektiven Erinnerung.
Die Geschichte ist die des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell. Mutig die Befehle des repressiven Landvogts Gessler ignorierend und treffsicher die Schweizer Freiheit verteidigend, schlugen seine Taten hohe Wellen – vom Vierwaldstättersee bis nach Japan und Amerika, wo er nach wie vor als Held verehrt wird. Als symbolischer Akt des Freiheitskampfes schoss er seinem Sohn Walterli besagte Frucht vom Haupt und wurde damit zu einem Mythos in Gesellschaft und Politik, zur Legende einer Nation. Aber halt! Es gab einen Sohn des Herrn Tell, also musste es eine Mutter geben. Hedwig hatte Friedrich Schiller sie in »Wilhelm Tell«, dem wohl bekanntesten Werk über Tell, genannt. Hedwig Tell. Hausfrau, Mutter, stets besorgt, stets zurückhaltend.
Wer war Hedwig Tell?
»Hatte sie überhaupt einen Namen?«, sinniert ein Herr der älteren Generation auf die Frage, wie er sich Hedwig Tell vorstellt. Auch er schlendert an diesem Morgen über den Rathausplatz, etwa siebenhundert Jahre später, gerade war er auf dem Turm neben dem Tellendenkmal. »Ach, die Feministinnen «, lautet der Kommentar eines anderen, der während der Frage näher herangerückt war, um uns besser zu hören. »Müssen die sich jetzt noch auf die Frau konzentrieren?«
Ja, höchste Zeit. Für uns tritt die Frau, über die wir nicht mehr wissen als einige Zeilen von Schiller und vage Vermutungen von Historikern, für einen Tag aus dem Schatten des Denkmals ihres Mannes. Es ist eine robuste Figur, die dort in der Frühlingssonne steht, mit langem, schwerem Rock und einem Tuch um ihr dickes Haar geschlungen. Ihre Haltung ist leicht gebückt von harter Arbeit vor vielen Jahrhunderten. Im Gegenlicht ist ihr Gesicht kaum auszumachen. »Ihr wollt also meine Geschichte erfahren?«, richtet sie scheu das Wort an uns. Plötzlich sind wir alle drei verlegen, vielleicht sogar alle fünf, zählt man die beiden stummen Bronzestatuen dazu.
Wir, aus Zürich angereist mit unseren Notizblöcken und Laptops im Gepäck, Hedwig aus einer Vergangenheit, die so weit zurückliegt, dass alle Fakten längst zu Erzählungen geworden sind und Ereignisse nur noch als Mythen und Legenden weitergegeben werden. Was unternimmt man bei so einem Treffen, welche Fragen stellt man? Kaffeegeruch nimmt uns die erste Entscheidung ab und lockt uns in eine nahe gelegene Bäckerei.