Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schlendert der 1.92 Meter grosse Mann langsam der Mauer des Aussichtspunkts entlang und schaut nachdenklich über die Stadt. Kein Stress, keine Hektik ist in seinen Bewegungen zu erkennen. Die Sonne wärmt den Rücken und der 62-Jährige geniesst die Landschaft auf dem Goldenberg in Winterthur. Er hält nicht nach der Journalistin Ausschau, sondern lässt sich lieber finden. »Herr Hilty?« Langsam dreht er sich um. Lorenz Hilty ist Professor für Informatik und Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Zürich und widmet sein Leben einer nachhaltigen Zukunft. Der Professor grüsst mit einem freundlichen Lächeln. Hilty lächelt gern und oft – davon zeugen die feinen Fältchen in seinen Augenwinkeln. Doch die erste Frage überrascht ihn so, dass er seine Augen einen Moment lang weit aufreisst. »Oh!«, sagt er nur und nimmt sich einen Augenblick Zeit, um darüber nachzudenken. Seine Kindheit in drei Worten zu beschreiben, scheint ihm nicht leichtzufallen. Dann ist er sich aber sicher: »Kultur, Provinz und Technik.« Amüsiert beginnt er mit der Ausführung des ersten Stichworts.
»Ich hatte als Kind das Gefühl, am Nabel der Welt aufzuwachsen. Für mich war es normal, dass Medienschaffende, Schauspieler und Schriftsteller – unter anderen Friedrich Dürrenmatt – zu Besuch waren.« Lorenz Hilty schaut über die Rebberge, als ob sich dort seine Vergangenheit widerspiegeln würde. »Ich erinnere mich, dass ich jeweils gar nicht ins Bett gehen wollte – viel lieber wollte ich noch länger den Gesprächen am Küchentisch zuhören. Das intellektuelle Leben bei uns zu Hause habe ich als positiv empfunden, auch wenn ich noch nicht alles verstand.« Lorenz Hilty ist seinen Eltern dankbar für dieses Umfeld während seiner Kindheit. Sein Vater hat damals Literaturzeitschriften und moderne Buchreihen herausgegeben, hauptsächlich Lyrik. Er arbeitete auch als Zeitungsredaktor und hatte zum Stadttheater St. Gallen und vielen Schriftstellern und Künstlern Kontakt. »Autoren aus dem Ausland wohnten teilweise wochenlang bei uns in der Mansarde, auch noch nach der Scheidung meiner Eltern.«
Das Elternhaus von Hilty war ein intellektuelles Zentrum, das durch seine Weltoffenheit einen Kontrast zum lokalen Umfeld bildete. Diesen hat Hilty als Kind als starkes Spannungsverhältnis empfunden, deshalb das Wort Provinz – das nächste Stichwort in seiner Kindheitsbeschreibung. Die Erinnerungen an das Provinzielle in seiner Nachbarschaft und Schule stimmen den grossen Mann weniger enthusiastisch. Auf der Suche nach den richtigen Worten betrachtet Hilty den grauen Asphalt unter seinen Füssen. »Meine Eltern liessen sich scheiden, was für meine Mutter in der damaligen Zeit ein Stigma war, und dann noch diese Künstler und Intellektuellen, die bei uns ein und aus gingen. Der Gegensatz der Wertvorstellungen zwischen meiner Familie und dem ›Bünzlitum‹ darum herum hat mich geprägt.« Alles was für ihn im Elternhaus selbstverständlich war, sollte in der Schule plötzlich nicht mehr gelten. »In der Schule ging es noch recht spiessig zu, es war die Zeit des Umbruchs in den 1960er-Jahren.« Deshalb fand Hilty in seiner Schulzeit in St. Gallen nicht wirklich Anschluss – das sollte erst später passieren.
Ein älteres Ehepaar unterbricht Hilty und möchte von ihm den Weg zum Museum Römerholz wissen. Der Professor gibt Auskunft, setzt sich dann auf eine Holzbank neben einem Steinbrunnen und nimmt den Erzählfaden wieder auf. »Ich fand mich nicht zurecht in dieser Aussenwelt, aber irgendwie musste ich mich von meinem Elternhaus lösen.« Sein Ausweg war das dritte Stichwort in seiner ersten Antwort: Technik. »Schon als Siebenjähriger habe ich Elektrozeugs gebastelt. Da ging es um Fakten, nicht um Wertvorstellungen. Das war ein sicherer Boden.« Sein nachdenklicher Blick richtet sich wieder in die Ferne. Die Begeisterung in Hiltys Stimme ist wieder da, und er erinnert sich an seine frühesten Technikspielereien. »Es hat damals diese didaktisch grossartigen Baukästen gegeben von Kosmos! Es ist enorm lehrreich und motivierend, wenn man aus ein paar Bauteilen beispielsweise ein Radio oder eine Gegensprechanlage zusammenbauen kann.« Hilty lacht unbeschwert, und beinahe könnte man meinen, er sei in die sorglose Kinderwelt von damals abgetaucht. Doch dann steht er entschlossen von der sonnengewärmten Holzbank auf und schlendert weiter.
Der Professor mit abgebrochenem Studium
Um zu verstehen, wie Hilty sein Leben einer nachhaltigen Zukunft widmet und dabei die zwei Themenfelder Digitalisierung und Nachhaltigkeit vereint, muss man weit zurückgehen. Dass er Physik studieren wollte, war ihm bis zur Matura immer klar gewesen. Doch nach zwei Semestern brach Hilty das Physikstudium an der Universität Zürich ab. »Mir hat dann doch das Geisteswissenschaftliche in der Physik gefehlt.
Ich dachte damals, in diesem Fach muss ich ein Leben lang lernen, bis ich dann ein weiterer Wissenschaftler bin, der versucht, die Erkenntnis einen Millimeter weiterzubringen.« Sein verzweifelter Gesichtsausdruck verstärkt diese Aussage. Nebst Physik interessierte er sich für Informatik, weil dieses Fach damals ganz neu war. Am liebsten hätte er Philosophie oder Psychologie damit verbinden wollen. In einer Infobroschüre über weltweite Studienangebote wurde er schliesslich fündig. »Ich weiss noch, als wäre es heute gewesen, wie ich sie aufgeschlagen habe und das Gefühl hatte: Das ist es!« Mit dem Zeigefinger deutet er auf die imaginäre Broschüre vor sich und lacht.
Die Broschüre warb für ein Informatikstudium in Hamburg, das mit jedem anderen Nebenfach kombiniert werden konnte. Kurzerhand meldete sich Hilty an, und fünf Jahre später hatte er seinen Abschluss in Informatik mit dem Nebenfach Psychologie in der Tasche. Doch nach dem Diplom kehrte er nicht in die Schweiz zurück. Hilty schrieb in der Hansestadt seine Doktorarbeit und anschliessend noch die Habilitation. Und wie das Leben so spielt, fand er seine Liebe in Hamburg. 1998 kam die gemeinsame Tochter May-Britt zur Welt. Details zu dieser Liebesgeschichte behält Hilty für sich.