Wir sitzen schon fast im Auto, als die Nachricht von Rebecca Clopath kommt: »Sali, ihr müsst nicht nach Lohn kommen. Wir können uns um 14.00 Uhr in Thusis treffen, von da aus gehts los. Zieht euch warm an.«
Mit Rebecca sind wir bereits per Du, bevor wir sie zum ersten Mal treffen. Ein Telefonat mit ihr beginnt mit »Hallo, hier ist Rebecca!« Auch wenn sie noch nicht weiss, wer am anderen Ende der Leitung ist.
Wir gehen mit ihr im Domleschg, einem Tal in Graubünden, spazieren. Richtig vorwärts kommen wir dabei aber nicht. Alle paar Meter bleibt sie stehen, kommt vom Weg ab, klettert die Böschung hoch. »Seht ihr, wie grün es schon ist?« Bockshornklee, Bachkresse, Wiesenschaumkraut, Veilchen, Schwarzdornblüten, wilder Schnittlauch, Gundermann. Mit flinken Fingern pflückt sie ein paar Blätter aus dem Boden, streckt sie uns hin. »Probiert, es schmeckt wie rohe Erbsen!« Rebecca Clopath ist Naturköchin. Normalerweise sammelt sie hier Kräuter und Pflanzen für ihre Menüs in der Stivetta – ihrem Restaurant im bündnerischen Lohn. Heute sammelt sie aber noch nichts. Wir sind nur hier auf den Feldern am Waldrand, um zu sichten, wie viel schon gewachsen ist, seit der Schnee Mitte April im Tal endlich geschmolzen ist. »Löwenzahn-Knospen! Die kann man in Butter anbraten und zu Pasta servieren.«
Hast du schon mal etwas Giftiges gegessen? Wahrscheinlich schon.
Wäre Rebecca Clopath nicht Köchin geworden, hätte sie sich für Astrophysik interessiert. Dafür hätte sie allerdings wesentlich besser sein müssen in der Schule. »Als dezente Analphabetin, also als Vollblut-Legasthenikerin, hatte ich dafür keine Chance. Die Astrophysik ist komplett anders als das Kochen – die Kreativität, die das Universum bringt, ist super random. Es kommt einfach, wie es kommt, und ist einfach so, wie es ist.«
Bei Clopath hingegen scheint alles so zu kommen, wie sie es sich in den Kopf setzt. Sie ist direkt, herzlich, nahbar und frech. Sie benutzt viele englische Wörter und Kraftausdrücke: scheisse, huere, fuck, geil. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie schon lange in der Gastronomie arbeitet, wo ein schroffer Umgangston herrscht. Wenn man mit ihr spricht, hat man das Gefühl, man sitze mit einer Freundin zusammen. Sie legt bei einem Interview nicht jedes Wort auf die Goldwaage – spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, wirkt dabei zum Teil fast übermütig, vor allem aber ehrlich.
Vielleicht hat ihr diese Art geholfen, ihren Traum zu verwirklichen: die Botschaft, hinter der sie steht, in die Welt hinauszutragen. Um diese möglichst vielen Menschen schmackhaft zu machen, hat sie sich die Esswahrnehmung ausgedacht. An wenigen Tagen im Jahr serviert die Naturköchin über Mittag in sechs Stunden acht Gänge. Die Esswahrnehmungen finden jeweils im Frühling und im Herbst statt und sind bereits lange Zeit im Voraus ausgebucht. Kostenpunkt: 290 Franken. Klingt im ersten Moment nach einem normalen, kostspieligen Gourmetmenü. Wirft man einen Blick in die Speisekarte, fällt allerdings auf, dass jeder Gang einen Namen wie »Eiger Nordwand & das Taschenmesser« oder »Albert Einstein« trägt. Das sind die Titel der Geschichten, die Clopath erzählt, während den Gästen Forelle, Wacholderbeeren, Zitronenmelisse, Eigelb, Kartoffelschale, Stangensellerie, Zwiebeln, Dill und Blüten, Buddhas-Hand-Zitronen und Kartoffel-Jus serviert wird.
Welches Gericht die Köchin aus diesen Zutaten zaubert, erfährt man erst, wenn es vor einem auf dem Tisch steht. Dazu gibt es entweder die klassische Weinbegleitung, oder man entscheidet sich für die alkoholfreie Variante mit einem Buchenholz-Drink und Fichtensprossen-Tee. Sämtliche Zutaten stammen aus dem alpinen Raum, nichts hat einen weiten Weg zurückgelegt. Es gibt keinen Kaffee, keinen Pfeffer, keinen Zimt, keine Vanille, keine Nelken. Stattdessen wird das serviert, was die Natur der Bündner Berge zu dieser Zeit hergibt: Fleisch und Gemüse vom eigenen Biohof und von lokalen Produzent*innen sowie Wildpflanzen von der Wiese. Das Ziel sei aber nicht, die Globalisierung zu verteufeln. Die 33-Jährige will zeigen, wie vielfältig ihre Region ist. »Da wir so global einkaufen können, merken wir nämlich häufig nicht mehr, was wir hier eigentlich alles haben.«