Der Bahnhof in Wiesendangen ist wie leer gefegt, als Sarah Akanji mir auf dem Perron entgegenläuft. Schon von hier aus sind die vielen Fussballfelder zu sehen, die zum Dorf gehören; Fussball ist neben dem Turnverein dessen ganzer Stolz. Wir treffen uns in Wiesendangen, da hier alles seinen Anfang nahm: der Fussball, die Politik. Auf einem dieser Plätze hat Sarah, die mir sofort das Du anbietet, ihr erstes Training absolviert, ihr erstes Tor geschossen. Damals war sie das einzige Mädchen in der Mannschaft. Für manche ein Dorn im Auge der Wiesendanger Fussball-Community. »Fussball ist immer noch ein Männersport. Männer machen die Regeln, Männer sind in der Mac htposition«, wird sie später sagen. Sarah Akanji ist Politikerin und Fussballerin. Und Aktivistin und Kolumnistin. Nebenbei absolviert sie gerade einen Master in »Changing Societies« an der Universität Basel. Und das alles mit 27 Jahren. Wenn Sarah etwas stört, dann unternimmt sie etwas dagegen. Oder versucht es zumindest. Denn was ihr am meisten widerstrebt, ist, untätig zu sein.
Als sie mit 25 Jahren von der SP, wo sie damals als Campaignerin arbeitet, gefragt wird, als Kantonsrätin zu kandidieren, ist sie zunächst nicht begeistert. Vor ihrer Zeit bei der sozialdemokratischen Partei hatte sie zwar Politikwissenschaften und Geschichte an der Universität Zürich studiert; doch an eine politische Karriere hatte sie bis anhin nicht gedacht. Von der Rolle der Aktivistin ist sie mehr angetan. Aber dann wird ihr klar, dass ihr diese Anfrage eine Chance bietet. »Nach langem Überlegen musste ich mir eingestehen, dass die Argumente dafür schlichtweg überwiegen: Allen voran, dass zu wenig junge Frauen in Parlamenten vertreten sind – vor allem zu wenige mit Migrationsgeschichte. Ich habe mir gedacht: Hey, du kannst das nicht einfach nur nicht in Ordnung finden, aber nichts dagegen machen.«
Bei der SP ist sie umgeben von Menschen, die den gleichen Drang haben wie sie: Etwas zu bewirken, die Gesellschaft solidarischer zu gestalten. »Früher bin ich oft alleine dagestanden, wenn ich etwas ändern wollte und meine Meinung gesagt habe. Bei der SP auf einmal nicht mehr. Da war für mich klar, dass ich dort dabei sein möchte.« Als dann im Herbst 2019 feststeht, dass sie mit dem besten Resultat des gesamten Kantons in den Kantonsrat gewählt worden war, kann sie es kaum glauben. Sie konnte eine starke Medienpräsenz vorweisen, und die Umfragen sahen auch nicht schlecht aus. Im Monat vor den Wahlen hatte sie dann aber öfters gehört, wie selten es vorkommt, dass neue Leute andere überholen. Da hatte sie die Wahl für sich eigentlich schon abgeschrieben. Am Wahltag bestreitet sie ein Fussballspiel. Das trifft sich gut: Für Nervosität bleibt keine Zeit. Als sie nach dem Spiel wie immer bei den Fans abklatscht, teilt ihr ihr damaliger Freund mit, dass sie gewählt ist.
Das Krasse sei gewesen, dass man bei einer solchen Wahl, im Gegensatz zu einem Bewerbungsgespräch, nicht eine einzelne Person überzeugen muss, sondern eine ganze Gesellschaft, erzählt sie. Sie wollte die Leute aber nicht von sich überzeugen, sondern von gewissen Themen. Zum Beispiel davon, dass das Parlament zu wenig durchmischt ist und es wichtig ist, dass unterschiedliche Sichtweisen darin vertreten sind.
Politikerin und Aktivistin
Über sich selbst sagt die Verteidigerin, dass sie beides ist: eine Politikerin, die Kompromisse macht, aber eben auch eine Aktivistin, die ihre Anliegen ungefiltert mit Medienauftritten an die Öffentlichkeit trägt. Aktivismus ist ihrer Meinung nach wahnsinnig wichtig. Ohne die Politik würden die Anliegen von Aktivist*innen aber nie ihren Weg in die Institutionen finden.
Deswegen ist es für Sarah elementar, dass Leute, die eine Meinung haben und sich die Gesellschaft anders vorstellen, auch den Weg in die strukturelle Politik gehen. Man müsse zwar mehr Kompromisse eingehen und die trägen Entwicklungen aushalten, das Feld aber nur denen zu überlassen, die konservativ sind und Aktivist*innen keinen Raum geben wollen, sei sehr problematisch. »Es braucht Leute in der Politik, die aktivistisch denken und sind.«
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© Fliesstextbild: Maurice Haas