Das Wetter zeigt sich an diesem Freitag von seiner besten Seite. Keine einzige Wolke bedeckt den strahlend blauen Himmel. Die Landschaft und Hausdächer sind ebenmässig in eine weisse Pracht gehüllt, die im Sonnenschein glitzert und funkelt. Die Atmosphäre ist beinahe kitschig, so als würde das idyllische Bergdorf Elm einem Bilderbuch entstammen. Vorsichtig fährt der Bus auf einer Strasse, die kaum breiter ist als er selbst. Links und rechts säumen Häuser die schmale Strasse. Es sind typische Chalets, deren Holz sich aufgrund ihres Alters bereits dunkel verfärbt hat, was ihren Charme aber nicht mindert. Die meisten Fahrgäste haben die Skiausrüstung dabei und werden bis zur Endstation sitzen bleiben. An der Haltestelle »Dorf« hält der Bus für eine ältere Dame an. »Tschau, Markus«, ruft sie dem Buschauffeur zu, bevor sie aussteigt. Man kennt sich hier in Elm, der Heimat von Vreni Schneider. Die Türen schliessen sich, und Markus setzt die Fahrt fort. Bald schon sind von Weitem Gondeln zu erkennen, die auf den Berg führen.
Der Bus hält direkt vor der Talstation. Schräg gegenüber der Bushaltestelle befindet sich in einem kleinen Häuschen das Skischulbüro von Vreni Schneider. Drinnen ist es warm. Der Raum wirkt chaotisch, aber nicht unordentlich. Alles scheint seinen Platz zu haben. In der Mitte des Raumes steht ein runder Tisch mit drei Stühlen. Darauf stapeln sich farbene Überziehwesten für die Skischülerinnen und Skischüler. An den Wänden hängen Poster, am Boden reihen sich Skischuhe und ganz hinten steht in einem Regal eine grosse Dose Ricola- Bonbons. Auf der gegenüberliegenden Seite trennt ein querstehender Tisch den Arbeitsbereich vom restlichen Raum ab. Inzwischen ist Vreni Schneider aber nicht nur selbstständige Unternehmerin, sondern auch Mutter und Ehefrau. Früher wie heute lebt sie ein bodenständiges Leben, in dessen Mittelpunkt Elm und die Familie stehen.
Vreni Schneiders Begrüssung ist herzlich und ungezwungen. Sie sitzt auf dem Bürostuhl und trägt einen blauen Skidress, der mit den Logos ihrer Sponsoren gespickt ist. Unter dem breiten Stirnband, das schon fast als Mütze durchgehen könnte, schauen ihre Haare hervor, die sich leicht nach oben kräuseln. An ihren Ohren schwingen bei jeder Bewegung Perlenohrringe hin und her. »Das sind keine echten Perlen. Echte Perlen sollte man ja beim Duschen ausziehen, und das ist mir zu kompliziert. Da habe ich lieber solche, die ich immer tragen kann. Dann reut es mich auch nicht, wenn mal wieder ein Ohrring im Abfluss verschwindet.« Sie besitze zwar auch echten Schmuck, aber diesen schone sie lieber. Immer wieder zupft Vreni Schneider an ihrer Atemschutzmaske oder streicht sich die Haare hinter die Ohren.
Sie ist nervös. Florian, ihr älterer Sohn, startet an diesem Tag an einem FIS-Rennen im Südtirol. Am liebsten hätte sie das Rennen livetime mitverfolgt, doch ausnahmsweise kommt es nicht. Schneiders Ehemann Marcel Fässler hat den gemeinsamen Sohn ins Südtirol begleitet, weil dieser von der Berufsschule abgeholt werden musste. Und obwohl sein Vater zur mentalen Unterstützung dabei ist, ruft der Siebzehnjährige kurz vor dem Start noch seine Mutter an. Ohne zu zögern, nimmt Schneider den Anruf entgegen. Florian erzählt, dass es kalt sei und dass er noch eine Banane gegessen habe. Geduldig hört ihm Vreni Schneider zu, erwidert seine Aussagen mit einem tiefen und langsamen »suuuper« oder »guuuet«. Schliesslich beendet sie mit »ich tuä dir fescht Dumä druggä, das weisch, gell« das Gespräch.
Keine Eintagsfliege
Es ist nicht verwunderlich, dass Florian seine Mutter vor dem Rennen anruft. Mit drei Olympischen Goldmedaillen, drei Gesamtweltcupsiegen und drei Weltmeistertiteln ist Vreni Schneider eine der erfolgreichsten Fahrerinnen der Skigeschichte. Ganze 100-mal stand sie auf dem Podest, 55-mal auf dem ersten Platz. Ihre 20 Siege im Riesenslalom konnten bis heute von keiner Athletin überboten werden. »Wenn es mit dem Skifahren nicht geklappt hätte, hätte ich ja immer noch eine Lehre als Floristin machen können«, beginnt die Blumenliebhaberin von ihrer Karriere zu erzählen. Währenddessen schweift ihr Blick immer wieder Richtung Fenster. Sie ist routiniert, ihre Antworten wirken jedoch keineswegs auswendig gelernt, sondern lebendig und ehrlich.
Sie erinnert sich gerne an die damalige Zeit, das spürt man sofort. Im Dezember 1984 siegte sie erstmals im Riesenslalom, nur ein Jahr zuvor hatte sie ihr Weltcup-Debüt gegeben. »Ich machte mir einen unglaublichen Druck. Weil ich diesen Sieg bestätigen wollte. Ich wollte ja keine Eintagsfliege sein.« Nach ihrem Weltmeistertitel 1987 in Crans Montana liess der Druck nach, und es folgte ein Sieg nach dem anderen. »Da hast du fast Mitleid mit den anderen Athletinnen, weil du merkst, du bist unschlagbar. Du kannst dich nur selbst schlagen.« In jener Saison fuhr Schneider sagenhafte 14-mal auf den ersten Platz. Sie sei damals in einer Verfassung gewesen, die ihr fast ein bisschen unheimlich war, weil sie nicht einmal ein Fehler bremsen konnte.