Ein Austausch mit Rudolf Minsch, Chefökonom, Economiesuisse


Welche Chancen verbinden Sie mit der Schweiz von 2024?

Die Herausforderungen, welche die demographische Entwicklung mit sich bringen, und der anhaltende Arbeitskräftemangel werden immer stärker in der Öffentlichkeit diskutiert. Es besteht die Chance, politisch einige längst überholte Hindernisse anzugehen. Arbeit muss sich lohnen. Über das Pensionsalter hinaus. Bei tieferen Einkommen, wenn Unterstützungen der öffentlichen Hand wegfallen. Und bei höheren, wo die Progression und Abgabenlast zuschlagen.

Warum ist der generelle Chancenblick für die Schweiz und ihre Zukunft entscheidend?

Wir brauchen optimistische Zukunftsbilder, die Veränderungen zu heute positiv darstellen. Es darf nicht sein, was der Philosoph Ludwig Hasler über den heutigen Zeitgeist der Schweiz so prägnant formuliert hat: «Wir wollen gar keine Zukunft, eher eine Fristerstreckung für die Gegenwart.» Das Gegenteil sollte zutreffen: Wir müssen Zukunft wollen. Und uns darauf freuen und darauf hinarbeiten.

In welchen Bereichen würden Sie sich wünschen, dass dieser Chancenblick sichtbarer wäre?

Ich bin ein politischer Mensch: Ich wünschte mir, dass die Politik vorangeht, die Zukunft der Schweiz gestalten will. Und nicht nur die Probleme bewirtschaftet, um wiedergewählt zu werden und die eigene Macht zu vergrössern. Dazu gehört, dass die Politik zu einem positiven Bild der Menschen zurückkehrt: Sie sind mündig und für sich selbst verantwortlich. Der Staat greift nur ein, wenn jemand durch die Maschen fällt. Weder soll der Staat seine Bürger:innen bevormunden, noch sie «bemuttern». Der Staat muss wieder lernen als «Diener» zu agieren. Denn Chancen können nur in Eigenverantwortung und im Rahmen persönlicher Freiheit wahrgenommen werden. 

Welche Rolle spielen (spielten) Chancen in Ihrem Leben?

Die Schweiz ist ein Chancenland und ich empfinde es als ausserordentliches Privileg, hier geboren und aufgewachsen zu sein. Als Bauernsohn aus einem Bergdorf wurde mir die Ausbildung zum Primarlehrer ermöglicht. Später hatte ich die Chance an einer der besten Business Universitäten in Europa zu studieren. Und ich habe die Chance wahrgenommen an der Boston University zu arbeiten.

Am 10. September 2024 erscheint die 5. Ausgabe des Chancenbarometers mit dem Schwerpunktthema «Die 10-Millionen-Schweiz».
Sehen Sie das Bevölkerungswachstum in der Schweiz eher mit Chancen oder Herausforderungen verbunden? In welchen Bereichen und warum?

Die Chancen überwiegen deutlich. Die Schweiz ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Seit jeher war es nur möglich, gemeinsam mit zugewanderten Arbeitskräften diesen Wohlstand zu schaffen. Unsere Offenheit und unsere Vernetzung mit der Welt war und ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Ohne ausländische Arbeitskräfte gäbe es keine erfolgreiche Exportwirtschaft, keine international kompetitive Finanzindustrie, keinen derart hochstehenden Forschungsplatz. Es sind neben der Gastronomie oder der Landwirtschaft vor allem die wertschöpfungsintensiven Branchen, die dringend auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sind. Es gibt zu wenige Spezialisten in der Schweiz, um genügend Talente für eine derartige Dichte an Top-Unternehmen und Top-Universitäten zur Verfügung zu stellen. 

Welche konkreten Auswirkungen wird die mögliche «10-Millionen-Schweiz» auf die Wirtschaft im Allgemeinen haben? Wer sind die Gewinner? Wer die Verlierer?

Fakt ist, dass uns bereits heute tausende Arbeitskräfte fehlen. Wir alle spüren den Arbeitskräftemangel. Mit dem Eintritt der Babyboomer-Generation in die Rente wird sich dies massiv verschärfen. Selbst ohne weiteren Jobzuwachs würden bis zum Jahr 2040 kumuliert rund 431’000 Personen im Arbeitsmarkt fehlen. Mit dem Bevölkerungswachstum, unter anderem über die Zuwanderung, kann dem entgegengetreten werden. Selbstverständlich muss aber auch die Schweiz ihre Hausaufgaben machen, das Inländische Arbeitskräftepotential besser ausschöpfen.

Das Bevölkerungswachstum bringt immer gewisse Herausforderungen mit sich. Diesen kann entgegengetreten werden, indem wir die Infrastrukturen modernisieren und ausbauen und die Bauvorschriften und -verfahren vereinfachen. So kann genügend Wohnraum geschaffen und die Lebensqualität der Menschen gewährleistet werden.

Tun wir (die Schweiz) das Richtige, um das Positive, das mit dem Bevölkerungswachstum einhergeht, zu nutzen?

Teilweise ja. Zum Beispiel haben wir den öffentlichen Verkehr in den letzten Jahren massiv ausgebaut: Die Verbindungen wurden verbessert und der Taktfahrplan verdichtet. Dies wäre ohne ein Bevölkerungswachstum nicht möglich gewesen. Auch die Angebote in Kultur und Sport leben deutlich besser, wenn die Bevölkerung wächst. Und schliesslich profitiert die öffentliche Hand von stark gestiegenen Steuereinnahmen, die allerdings teilweise für Partikularinteressen eingesetzt werden.

Eine grosse Chance bietet sich, die starren Bauvorschriften zu verändern, dass gerade in urbanen Zentren höher gebaut werden kann. Wie viele Städte zeigen, ist eine grosse Bevölkerungszahl attraktiv, weil dadurch eine unglaubliche Dichte an Dienstleistungen in völlig unterschiedlicher Ausprägung angeboten wird. Vielfalt schafft Mehrwert.

SD21 Ambassadors gestalten mit


Die Schweiz wächst. Unser Bevölkerungswachstum ist eines der grössten in Europa, und Prognosen gehen davon aus, dass diese Entwicklung weiter anhält. Kommt bald die «10-Millionen-Schweiz»? Die Frage polarisiert – umso wichtiger ist ein gesellschaftsübergreifender Dialog, der auf einen gemeinsamen Konsens zielt.

Darum braucht’s Persönlichkeiten mit spür- und sichtbar eigener Authentizität, die über die Chancen und Herausforderungen des Bevölkerungswachstums berichten. Die mit ihren Perspektiven inspirieren und unseren Horizont erweitern. Regelmässig portraitieren wir deshalb Unternehmer:innen, Meinungsmacher:innen, Entscheidungsträger:innen und junge Wilde mit Ecken und Kanten. Sie sind die SD21-Ambassadors.

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