Ein Rückblick in Bildern auf den Chancentag am 10. September mit einem Summary von Joseph de Weck. Er ist Schweizer Historiker, Politologe und Autor. Seit 2020 leitet er die Europaabteilung bei Greenmantle, einem Beratungsunternehmen für geopolitische und makroökonomische Risiken. Den Chancentag begleitete er zum zweiten Mal.
Am Ende des langen Tags bin ich gleichsam der Mann, der Sie von dem Buffet fernhält. Darum keine Sorge, ich fasse mich kurz. Lassen Sie mich den Tag Revue passieren lassen und drei Beobachtungen anstellen.
Erstens: So ein Chancen-Tag tut gut
Beim Mittagessen, bei der Vorstellung des Chancenbarometers, in den Chancen-Workshops und soeben bei der Podiumsdiskussion: Durchweg hatten wir volles Haus.
Offensichtlich wollten sich viele die Chance nicht entgehen lassen, neue Menschen kennenzulernen, zu debattieren (und dann gut zu essen).
Ohnehin brauchen wir unbedingt diesen Chancen-Tag. Denn wir sollten uns möglichst abgewöhnen, im Alltag und im Beruf vorwiegend auf Probleme zu fokussieren – wir müssen stärker die Chancen in den Blick nehmen.
Der Chancenblick – das Denken in Chancen – funktioniert.
Das zeigt jedes Fussballturnier. Nimmt das Team die Herausforderung nicht an, glaubt es nicht an die Chance zu gewinnen, dann kann es gleich einpacken.
Aber das Paradoxe ist: Unser Gehirn denkt oft lieber in Problemen als in Chancen.
Wir alle kennen es: Wer holt das Kind von der Kita ab? Wieso funktioniert das Excel Sheet nicht? Wie lässt sich der Klimawandel eingrenzen? Im Kleinen wie im Grossen lösen wir immerzu Probleme, die als dringlich wahrgenommen werden. Jedoch nehmen wir uns weniger Zeit, Chancen zu sehen. Darum finden schlechte Nachrichten mehr Aufmerksamkeit als gute. Die Presse weiss das: Bad news is good news.
Doch solcher Pessimismus verstärkt die Passivität; vor allem rechtfertig er Passivität.
Darum ist dieser Tag wichtig. Zuversicht ist Antriebsenergie. Das Denken in Chancen des Bevölkerungswachstums oder des Fachkräftemangels, wie wir es in den Workshops gemeinsam gepflegt haben, ist eine Voraussetzung dafür, ins gemeinsame und konstruktive Handeln zu kommen.
Zweitens: 10 Millionen-Schweiz
Das leitet mich über zum zweiten Punkt.
Hauptthema des Chancenbarometers und des abendlichen Panels war die 10-Millionen-Schweiz.
Manchmal ging es hoch her auf dem Panel, auch im Publikum war die Spannung zu spüren. Das Thema beschäftigt die Menschen. Und was hoffnungsvoll stimmt: Der Chancenblick zeigt auf, dass die Schweizerinnen und Schweizer differenziert über das Thema Bevölkerungswachstum urteilen.
Gemäss Chancenbarometer sehen die Schweizerinnen und Schweizer das Bevölkerungswachstum als kulturelle Bereicherung. Sie wollen auch weiter Wirtschaftswachstum und ganz klar keinen Einwanderungsstopp – keine Holzfällermethoden à la Schwarzenbach-Initiative.
Aber sie benennen ebenso klar Herausforderungen, die eine wachsende Bevölkerung mit sich bringt: Die öffentliche Infrastruktur stösst an Grenzen. Das Wohnangebot ist zu knapp. Die Politik muss handeln. Das sehen Anhänger aller Parteien von links bis rechts.
Den Handlungsbedarf hervorgehoben zu haben, ist das Verdienst von Frau Gartenmann, welche die 10-Millionen-Initiative mitlanciert hat.
Mehr Investitionen in den ÖV, mehr Wohnungsbau: Gemäss Chancenbarometer sehen 70% der Bevölkerung diese Massnahmen als dringlich an, um klug mit dem Bevölkerungswachstum umzugehen.
Allerdings kann die Antwort nicht nur im «mehr» liegen, sondern auch im «besser». Die Schweiz muss lernen, ihre Ressourcen effizienter zu nutzen, also besser aus sich selbst heraus zu wachsen.
Annalisa Job von Adecco und Hendrik Budliger von Demografik zeigten in ihrem Workshop, dass es auch andere Wege als die Migration gibt, den Fachkräftemangel zu beheben. Sollen namentlich Frauen mehr Vollzeit arbeiten können, bedarf es beispielsweise erschwinglicherer Kitas. Doch das allein reicht nicht. Es braucht Arbeitgeber, die flexiblere Zeitarbeitsmodelle anbieten. Und einen Wertewandel in der Gesellschaft, der dies begleitet.
Kulturwandel – auch der ist nötig, sollen sich die Ü50 länger auf dem Arbeitsmarkt halten können. Klar, der Staat kann durch spezifische Sozialabgaben Anreize setzen, damit Arbeitgeber ältere Menschen anstellen. Gleichzeitig müssen Unternehmer lernen, dass ältere Arbeitnehmer wichtige Skills haben. Sie müssen bewusstwerden, dass sie sich mit der Diskriminierung älterer Arbeitnehmer keinen Gefallen tun.
Wir selbst sind ebenfalls gefordert. Leon Guggenheim und Erica Piccini haben dargelegt, wie wir bis ins hohe Alter mental und physisch fit bleiben. Ihre Tipps: Viele Proteine essen. Und Musik machen. Alles, was Körper und Geist gleichzeitig beansprucht, wirkt doppelt, sagen uns die Medizinstudentin und der -student.
Kurzum: Nicht einzig der Staat ist gefragt, sondern wie immer in der liberalen Schweiz - die ganze Gesellschaft, wenn wir unser Arbeitspotenzial besser ausschöpfen wollen. Nicht zuletzt müssen wir begreifen, dass sich Kapitalismus und Arbeitsbeziehungen wandeln.
Ein Unternehmer seufzte im Workshop: «Ich bin noch aufgewachsen in einer Welt, in der Eltern ihre Kinder schlugen, und wir gehorchten, arbeiteten. Jetzt finde ich niemanden, der einfach froh ist zu arbeiten.» Eine Headhunterin hielt dagegen: «Noch nie haben sich so viele Menschen selbstständig gemacht.»
Ja, die neue Hochphase des Kapitalismus liegt nicht nur darin, dass es an Arbeitskräften fehlt, sondern auch, dass nun viele selbst Kapitalisten werden wollen. Doch was ist ein breiter Kapitalisten-Kapitalismus?
Drittens: Die Zukunft bleibt offen
Sie kennen das alte Bonmot «Voraussagen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen».
Hendrik Budliger von Demografik warnte, dass die Schweizer Bevölkerung sehr schnell zu schrumpfen anfangen könnte. Die Erwerbsbevölkerung schrumpft bereits in 10 Kantonen, etwa in Bern und dem Tessin. Zudem würden die Bevölkerungsszenarien des BFS auf einer allzu optimistischen Schätzung der Geburtenzahlen beruhen.
Eine verwandte Frage kam im Workshop von Francesco Ferra von Google auf. Er vermittelte uns, Google sei so gross geworden, weil sich die Führungsleute getrauten, immer gross zu denken. «10X Denken» nannte er das. Die Message: Auch die Schweiz kann viel mehr aus sich selbst herausholen.
Aber (wie ein Gesprächspartner anmerkte): Was, wenn KI im nächsten Jahrzehnt voll einschlägt? Braucht die Schweiz dann all diese Informatikerinnen und Röntgenärzte, die wir heute im Ausland rekrutieren?
Gut möglich, dass KI wie zuvor schon jede Innovationswelle den Link zwischen materiellem Wachstum und der Anhäufung von menschlichem Kapital weiter brechen wird. Allemal würde das jeder Wirtschaftshistoriker erwarten. Anders gesagt: Dass die Schweiz tatsächlich so schnell wächst wie prognostiziert, dass es wirklich zur 10-Millionen-Schweiz kommt, ist nicht gesetzt.
Erlauben Sie mir folgende Schlussbemerkung:
Professor Schaltegger betonte richtig, Wachstum sei kein Selbstzweck. Das Ziel unseres Handelns muss die Erhöhung der Lebensqualität sein!
Ich würde vorschlagen, dass wir die Frage, ob die Zuwanderung uns gutgetan hat oder nicht, mit einem historischen Rückblick nach vorn beantworten.
Hier die Kernfrage, die wir zum Beispiel am Buffet erörtern können:
Finden Sie, dass die Schweiz von heute mit ihren fast 9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern lebenswerter, spannender ist als die der 1970er Jahre, als es bloss 6 Millionen Eidgenossen gab?
- Falls Sie finden, eher Nein, die Schweiz solle nicht länger wachsen, oder falls Sie gar zurück zur 6 Millionen-Schweiz der 1970er Jahre wollen, schlage ich vor, dass Sie folgerichtig vielleicht auf das Dessert verzichten.
- Falls Sie jedoch sagen, eher Ja, diese 9-Millionen-Schweiz ist lebenswert, und wir brauchen Wachstum, dann greifen Sie herzhaft zu. Auch beim Dessert.
Aber: Räumen Sie nachher den Tisch selbst ab. Dies im Sinne einer besseren Abschöpfung des Arbeitskräftepotenzials …
Ich hoffe, Sie werden mir den Scherz verzeihen. Vielen Dank für diesen debattenreichen Chancen-Tag.