Die Schweiz und Schweden werden oft in einem Atemzug genannt – nicht nur von unseren transatlantischen Freunden mit beschränkten geografischen Kenntnissen. Diese beiden Länder tauchen oft ganz vorne in Länderranglisten auf und werden bewundert für ihren funktionierenden Sozialstaat und ihre innovative, exportorientierte Marktwirtschaften.
Doch kann die Aussenwahrnehmung stark von der landesinternen Debatte abweichen. Damit ringen die – progressiv eingestellten – Schweizerinnen und Schweizer seit einigen Jahren: Wir sehen all die wirtschafts- und ausländerfeindlichen Vorstösse und Initiativen und sorgen uns um die Fundamente unserer Gesellschaft und unseres Wohlstands.
Eine kleine Delegation des StrategieDialogs21 und von foraus – Forum Aussenpolitik ist Mitte August nach Stockholm gereist, um Wahrnehmungen und Vorurteile des Schwedischen Modells an der Realität zu prüfen. Wir haben dabei gelernt, was die Fundamente des Schwedischen Erfolgs sind und wo der Glanz bröckelt. Diese "lessons learned" können für die Schweiz wichtige Referenzpunkte und auch Warnsignale sein.
Risse und Abgründe im Bildungssystem
Gute Aus- und Weiterbildung ist die Grundlage jeden wirtschaftlichen Erfolgs. Doch es gibt erschreckende Tendenzen: In den neusten PISA-Ergebnissen haben schwedische Schülerinnen und Schüler markant schlechter abgeschnitten als früher. Diese Einbussen auf sehr hohem Niveau stimmen nachdenklich für die Zukunft.
Ein grosses Thema unseres "research trips" war auch die Berufsbildung. Die Schweiz ist zu Recht stolz auf ihr duales Bildungssystem. Unsere Berufsbildung gibt jungen Menschen die Kenntnisse und Fähigkeiten mit, die sie im immer kompetitiveren globalen Umfeld wettbewerbsfähig machen. Ein überwiegender Anteil der Jugendlichen entscheidet sich für den Berufsbildungsweg; Akademikerarbeitslosigkeit ist kaum ein Thema in der Schweiz und überhaupt ist die Arbeitslosigkeit im internationalen Vergleich sehr tief.
In Schweden zeigen sich diesbezüglich besorgniserregende Tendenzen. Das traditionell staatsgetriebene Bildungswesen zentralisiert auch die Berufsbildung: Es gibt staatlich vorgegebene "vocational training"-Programme. Unternehmerische Selbstorganisation von Lehrstellen durch die Gewerbeverbände, was das schweizerische Modell auszeichnet, ist dem schwedischen System fremd. Ausserdem lernen immer weniger schwedische Jugendliche einen Beruf, während der Stellenwert einer universitären Bildung überhöht wird. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bereits über 20% und in einigen Jahren könnte sich ein Fachkräftemangel einstellen.
Eine Sonderheit des schwedischen Schulsystems machte uns besonders stutzig: In den neunziger Jahren wurde das Schulwesen liberalisiert. Heute muss man eine misslungene Privatisierung feststellen. Neben den staatlichen Schulen gibt es private "Charter Schools", die erfolgsorientiert betrieben werden, mitunter durch Venture-Kapital-Firmen. Diese Privatschulen erhalten aber staatliches Geld, für jedes Kind einen vorgesehen Betrag. Auch der Schulstoff wird vom Staat vorgegeben. Damit wurden Anreize geschaffen, an der Qualität zu sparen, um mehr von den staatlichen Bildungsgeldern als Profit zu verbuchen ("every student comes with a bag of money"). Einige dieser Schulen haben bereits Konkurs angemeldet – ein Schulbeispiel für privatisierte Gewinne und sozialisierte Verluste.
Die idealisierte Fortschrittlichkeit übertüncht unangenehme Realitäten
Schweden kombiniert ihre liberale Wirtschaftsordnung mit einem grundlegend anderen Sozialstaatsmodell als die Schweiz: hohe Steuerlast bei hoher Umverteilung. Wirtschaftliche und soziale Gleichheit sind stark verankerte Werte und geniessen hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Das gilt insbesondere für die 460-tägige Elternzeit. Der progressive Gesellschaftsliberalismus ist in Schweden derart verankert, dass nicht einmal die nationalkonservative Rechtsaussenpartei im gerade laufenden Wahlkampf Leistungskürzungen in diesem Bereich fordert.
Doch jede Tabuisierung droht Probleme zu übertünchen. Die SD21/foraus-Delegation konnte mit Irene Wennemo, einer ausgewiesenen Expertin für den schwedischen Sozialstaat, über ihr neuestes Buch sprechen. Darin zitiert sie eine interessante Umfrage: Eine grosse Mehrheit von Schwedinnen und Schweden befürworten die paritätische Aufteilung der Kindererziehung zwischen Mann und Frau. So weit so vorhersehbar; doch in der Realität kümmern sich weiterhin die Frauen grösstenteils um ihre Kinder. Im Schnitt beziehen die Väter denn auch nur 24% der ihnen zustehenden Elternzeit. Im Einzelfall wird die traditionelle Rollenverteilung gelebt und als individuelle Ausnahme von der sozialen Erwartung gerechtfertigt.
Ebenso erschreckend waren die Statistiken über Krankheitsraten unter Frauen. Sie sind viel häufiger krankheitsbedingt vom Arbeitsplatz fern als die Väter und Männer allgemein. Was dahinter stecken mag ist Mutmassung. Eine naheliegende Schlussfolgerung ist aber, dass es um "gender equality" und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Schweden doch nicht so viel besser bestellt ist als anderswo.
Aufziehende Probleme nicht verdrängen, auch wenn vieles noch gut ist
Das Schwedische Modell wird auch den Schweizer Kritikern eines ausgebauten Sozialstaats immer wieder entgegen gehalten. "Es funktioniert doch", heisst es dann, was grösstenteils auch stimmt. Die soziale Akzeptanz der hohen Umverteilung ist hoch. Zum einen, weil die Sozialleistungen sehr gut sind, und auch weil die liberale Wirtschaftsordnung grossen Wohlstand und hohe Lebensqualität bringt. Doch ist nicht alles Gold, was schwedisch glänzt. Wer sich gewohnt ist, immer zu den besten zu gehören, wird erfolgsverwöhnt und droht die Grundlagen des Erfolgs leichtfertig zu verspielen. Das gilt für die Schweiz ebenso wie für Schweden. Wir sollten aufziehende Probleme nicht verdrängen, weil es uns ja noch gut geht.
Dominik Elser ist foraus-Mitglied und Assistent am Institut für öffentliches Recht in Bern.