Das Milizsystem, dieser Pfeiler des schweizerischen Staatsaufbaus, bröckelt. Während im nationalen Parlament immer mehr Vollzeitpolitiker sitzen, haben die Gemeinden Mühe, Kandidaten für lokale Ämter zu finden.
Professionalisierung wie mangelnde Beteiligung untergraben das genossenschaftliche Staatsverständnis der Schweiz. Das neue Buch von Avenir Suisse beleuchtet das politische Milizsystem in seiner gesamten Breite, von den Gemeinden über die Kantone bis zum Bund, und es lanciert die Idee, das Milizsystem mit einem «Bürgerdienst für alle» neu zu beleben.
Beteiligung nimmt ab
Über 100'000 Bürger haben in der Schweiz in Gemeinden, Kantonen und Bund politische Ämter inne. Die meisten tun dies ehrenamtlich und nebenberuflich. Das politische Milizsystem ist Ausdruck des genossenschaftlichen Staatsverständnisses der Schweiz, wo jeder nach seinen Möglichkeiten einen Beitrag zum Gemeinwesen leistet, und es geniesst in der Bevölkerung nach wie vor grosse Zustimmung. Trotzdem sinkt die Beteiligungsbereitschaft der Bürger laufend. 2007 engagierten sich 26% der erwachsenen Bevölkerung in institutionalisierter Freiwilligenarbeit, unter die auch ein Grossteil der politischen Miliztätigkeit fällt, 2013 waren es nur noch 20%.
Profis beim Bund
Auf nationaler Ebene, also im National- und im Ständerat, ist vor allem eine Tendenz zur Professionalisierung zu beobachten. Seit den 1970er-Jahren hat der Anteil der Vollzeitpolitiker im nationalen Parlament stetig zugenommen. Er beträgt heute rund 50%. Reine Milizpolitiker gibt es im Ständerat gar keine mehr, im Nationalrat ist ihr Anteil auf mittlerweile 13% geschrumpft. Parallel dazu nahm die berufliche Vielfalt in der Bundesversammlung in den letzten Jahren ab. Für diese Entwicklungen gibt es mehrere Gründe: Die grössere Komplexität der zu betreuenden Dossiers, der höhere Zeitaufwand für die ständigen Kommissionen und die gestiegenen Löhne, die einen Nationalratssitz auch für jüngere Politiker attraktiv machen.
Hohe Fluktuation in den Kantonen
Auf der kantonalen Ebene üben im Gegensatz zum Bund die meisten Parlamentarier ihr politisches Amt nach wie vor nur neben ihrem Beruf aus. Auffallend ist jedoch die hohe Fluktuation in den kantonalen Parlamenten. Über 50% der Parlamentarier werden nach einer Amtsperiode nicht wiedergewählt oder geben ihr Amt freiwillig auf und häufig wird als Rücktrittsgrund die Zeitnot genannt.
Mängel auf Gemeindeebene
Auf der lokalen Ebene, dort, wo der Löwenanteil der Ämter im Milizsystem vergeben wird, zeigen sich die Grenzen des Systems am offensichtlichsten. Immer wieder haben Gemeinden Mühe, ihre Behörden überhaupt zu bestellen. Auch punktuelle Reformen wie eine höhere Entlohnung, die Reduktion der Belastung oder die Schärfung des Aufgabenprofils konnten bisher wenig ausrichten. Praktisch jede punktuelle Reform entfernt das Milizsystem vom Ideal der Nebenberuflichkeit und Ehrenamtlichkeit und schwächt letztlich den Milizgedanken, da die Ämter entweder an Bedeutung verlieren oder durch die Betonung materieller Anreize Berufscharakter annehmen.
Ein Bürgerdienst für alle
Avenir Suisse schlägt deshalb vor, einen Bürgerdienst für alle zu prüfen. Solch ein aktives Bekenntnis zur Milizkultur könnte sich auf Dauer als der liberalere und eigenbestimmtere Weg erweisen als das Festhalten am Status quo. Bei einer fortschreitenden Erosion der Milizkultur würden dem Staat nämlich immer mehr Aufgaben zufallen, die unpassend besetzte und überforderte Milizbehörden nicht mehr bewältigen können. Zudem hat die Schweiz mit dem Milizsystem eine einzigartige Institution, die Identität stiftet zwischen Bürger und Staat, die Kompromissfähigkeit und Konsens stärkt und die die Bürokratie in Schranken hält. Diesem Bürgerstaat entsprechen Staatsbürger, die sich aktiv einbringen, ja diesen selbst betreiben. Der Bürgerstaat sollte nicht zum Bürokratenstaat werden und der Staatsbürger nicht zum Staatskonsumenten. Genau darauf ist die Idee des Bürgerdienstes ausgerichtet.
Andreas Müller ist Vizedirektor bei Avenir Suisse und Herausgeber der Publikation „Bürgerstaat und Staatsbürger: Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne“.