Im Teesalon des Hotels Waldhaus wird zwischen 16 Uhr und 18 Uhr musiziert; in echt, live, physisch. Überhaupt atmet der ganze Ort den Geist des Vergangenen und des Analogen. Etwas Anachronistisches haftet ihm an. In den Lesesesseln rascheln die Herren diskret mit der Neuen Zürcher Zeitung und die Damen blättern mit angefeuchteten Fingerkuppen in ihren Romanen. Ist das der richtige Ort, um über die Digitalisierung zu sprechen? Wird es in dieser Umgebung den Teilnehmenden nicht zu einfach gemacht, sich auf ein bequemes und vulgär kulturkritisches „früher-war-alles-besser“ zu einigen? Die Befürchtung erweist sich bald als unbegründet. Einfach gemacht wird es hier niemandem, dafür sorgt bereits die Besetzung des Podiums mit der ehemaligen Spitzensportlerin und Olympiasiegerin Tanja Frieden, die heute Sportler und Wirtschaftskräfte coacht, dem Künstler George Steinmann und dem Gründer und CEO von getAbstract Thomas Bergen. So unterschiedlich sich die Erfahrungshintergründe der Gesprächsteilnehmer darstellen, so unterschiedlich erweist sich bald deren Zugang zum Digitalen. Die Voten bewegen sich zwischen emphatischer Umarmung der digitalen Zukunft und dem Vertrauen in die selbstregulativen Kräfte der Märkte, die auch die technologische Entwicklung in die richtigen Bahnen lenken wird, bis hin zur skeptischen Ablehnung bestimmter Erscheinungsformen, der Sorge vor Missbrauch und Suchtverhalten und dem Wunsch nach mehr staatlicher Regulierung. Über eines aber ist man sich einig: Wir hängen alle mit drin, wir sind alle ins Digitale verstrickt, ein Zurück ist weder wünschenswert noch realistisch. Die Digitalisierung der meisten Lebensbereiche wird fortschreiten, das Tempo dieses Prozesses eher zunehmen und die Auswirkungen auf bestehende Institutionen und Lebensformen, gerade im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Bereich der KI, werden sich ausweiten. Um so wichtiger, gibt sich George Steinmann überzeugt, sind maximalanaloge Erfahrungen, wie sein Malen mit Heidelbeersaft, das er als erfahrungsgesättigten Prozess beschreibt, der vom Aufbruch in die Natur, über das Suchen, das Sammeln und Verarbeiten, Schritt für Schritt physisch durchlebt werden muss. Vielleicht ist es der selbe Wunsch nach analoger Erfahrung, der George Steinmann in die Heidelbeeren und die Gäste ins Hotel Waldhaus treibt.
Am nächsten Morgen zeigte sich, dass eine literarischen Lesung (aus meinem Silicon Valley Roman Kraft), eine ganze Fülle an konkreten Fragen zur Folge haben kann und der narrative Zugang zum Thema der Digitalisierung dazu angetan scheint, sowohl Ängste wie auch Hoffnungen zum Ausdruck zu bringen.
Aus dem Publikum weist uns ein wichtiges Votum darauf hin, dass die Rede vom Digitalen zu kurz greift, dass das, was wir so verkürzend bezeichnen, aus einer Vielzahl einzelner Erscheinungen, Produkte und Entwicklungen besteht, die wir als Werkzeuge zu begreifen haben, die uns im besten Fall dazu dienen können, die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung zu steuern. Dazu habe aber zuerst ein Diskurs darüber stattzufinden, welche Gesellschaft wünschenswert und erstrebenswert sei. Interessanterweise schliesst die von diesem Votum ausgelöste Diskussion den Kreis zum Vorabend, zeigt sich doch auch hier wieder, dass sich die Geister daran scheiden, ob sie ihre Hoffnungen auf einen solidarisch gestaltenden und regulierenden Staat setzen oder von einem solchen eher die gestaltende Kraft des Einzelnen bedroht sehen.
Es sieht also so aus, als sei dies die entscheidende Frage, der wir uns zu widmen haben, denn die Digitalisierung schreitet voran, der Segen, den sie zu bringen verspricht, steht mehr denn je in Frage und das dystopische Potenzial ist, gerade angesichts der neuesten Entwicklungen in China, nicht zu leugnen. Es tut also dringend Not, sich darüber zu verständigen, in welcher Welt wir leben wollen, denn nur vor diesem Hintergrund werden wir in der Lage sein, die einzelnen Entwicklungen, die wir zusammengefasst und verkürzend als Digitalisierung bezeichnen, zu bewerten und ihnen angemessen zu begegnen.