Aus einer Unternehmerfamilie stammend, wurden mir Weltoffenheit, Freiheitlichkeit und Pioniergeist in die Wiege gelegt. Damals für mich noch leere Schlagwörter, verstand ich ihre Bedeutung für mich persönlich und für unsere Gesellschaft erst später. Zunächst erfuhr ich am eigenen Leib, was es damals in den Sechzigerjahren hiess, im Nachkriegsdeutschland geboren worden zu sein und die ersten Lebensjahre dort zu verbringen – hart am Rande der damaligen Zonengrenze zur DDR und zur Tschechoslowakei. Wenn in kalten Winternächten durch Frost ausgelöste Fehlzündungen der Selbstschussanlagen zu hören waren und der Kalte Krieg sich damit akustisch manifestierte und wenn je nach Wetterlage die mit Braunkohleabgasen verpestete Luft zu uns über die sechs Kilometer nahe Grenze zog, dann ahnte man auch als Kind, dass das warme Bett, in das ich mich noch mehr verkroch, vielleicht keine Selbstverständlichkeit ist. Dass der Puls „drüben“ im Osten womöglich ein anderer war als bei uns im Westen.
Als ich acht war, zog meine Familie nach Montreal und ich musste mich dort dem neuen Milieu anpassen, Englisch lernen und mich in der Schule als Neuling behaupten. Als Bub will man dazugehören. Die Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit der Kanadier gegenüber Fremden ermöglichten es mir, bald „heimisch“ zu werden und eine Ahnung davon zu entwickeln, was es heisst, als Fremder in einem anderen Land, einem dezidiert freien, demokratischen, zweisprachigen Land aufzuwachsen. Seither ist mir Kanada ans Herz gewachsen.
Drei Jahre später entschied die Familie, in die Schweiz zu ziehen. Wieder völlig andere Mentalitäten, wieder ein Eingewöhnen. Als junger Teenager will man erst recht dazugehören. Damals, Anfang der Siebzigerjahre in einer zurückhaltenden, irgendwie archaischen und im Vergleich zu Kanada deutlich verschlosseneren Schweiz. Längst kein Einwanderungsland. Eine Schweiz, wie wir sie heute kaum noch kennen.
Ich kämpfte mich durch die Sekundarschule als harziger Anfang meiner Eingewöhnung. Noch deutschsprechend. Dann ins Berndeutsch wechselnd und damit „gleitiger“ das Gymnasium absolvierend, mich zunehmend integrierend und meine neue Identität definierend. Mit 18 Jahren die Schweizer Staatsbürgerschaft annehmend. Mit der Absolvierung des Jus-Studiums an der Uni Bern und einer militärischen Ausbildung, fühlte ich mich endlich und definitiv integriert und war stolz, Schweizer zu sein.
Später, nebst vielen Auslandsreisen und langen Aufenthalten „around the world“ arbeitete und lebte ich mit meiner Familie – als mittlerweile Vater von drei Kindern – fünf Jahre in den USA. Von dort aus erlebte ich den Beginn des ersten Irakkrieges und den Fall der Mauer. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetreichs verband ich die Hoffnung einer weltweiten Demokratisierung und Entspannung. Es herrschte Aufbruchstimmung, auch bei mir. Globale Impulse und wirtschaftlicher Aufschwung bewogen mich, mich vorwiegend auf meine unternehmerischen Aufgaben zu konzentrieren und der Politik wenig Beachtung zu schenken.
Mit der Zeit jedoch begann ich zu realisieren, dass es sich hierbei mehr um ein Strohfeuer und eine geopolitisch wenig nachhaltige Entwicklung handelte. Bürgerkrieg in Jugoslawien, steigende Spannungen im Nahen und Mittleren Osten, das erwachende China und zunehmender Multilateralismus liessen bei mir Fragen zu Vor- und Nachteilen der Globalisierung und der Rolle der Schweiz in Europa aufkommen. Ich bekam zunehmend das Gefühl, dass wir in eine deutlich unsicherere Zukunft, als ursprünglich erhofft, unterwegs waren und viel mehr Sorge zu unserem eigenen Land tragen müssen. Dass wir dankbar sein müssen, in der Schweiz – einem Land, dem ich viel verdanke und von dessen gelebter Demokratie ich mehr und mehr überzeugt bin – leben zu können.
Ich sah auch, dass die bisherigen Stärken wie Pioniergeist, Innovationskraft und Offenheit der Schweiz mit dem enorm hohen Wohlstandsniveau in Gefahr geraten, da Demokratie und Rechtsstaatlichkeit häufig als Selbstverständlichkeit betrachtet werden und das Bewusstsein dazu erodiert. So initiierte ich 2013 die Förderstiftung StrategieDialog21, mit der wir seither vielfältige Beiträge für eine gelebte und lebendige Demokratie der Schweiz leisten. Eine Demokratie, die auf den engagierten, sachlich fundierten Dialog und eine offene Debatte setzt. Die gelebte Demokratie der Schweiz ist für mich wie das Herz, das den Pulsschlag ausmacht. Ohne Pulsschlag kein Leben.
Das neu initiierte Chancenbarometer ist mir deshalb eine Herzensangelegenheit. Wir wollen damit nicht nur messen, welche Möglichkeiten und Potentiale die Schweizer Bevölkerung mit der Demokratie unseres Landes verbindet. Wir wollen auch sehen, welche Ideen und Gestaltungsvorschläge die Bürgerinnen und Bürger haben und wie die Schweiz den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die wirtschaftliche Nachhaltigkeit und die Prosperität, aber auch die Klimaproblematik, meistern will.
Jobst Wagner, 26. August 2020