Schweiz - China : Lernen wir voneinander!
Seit zwei Monaten weile ich nun beruflich in der Volksrepublik China. Der Ihnen vorliegende Blogpost ist ein Versuch, die drei Fokus-Themen des SD21 Wirtschaftsfreiheit, Bildung und soziale Stabilität aus der „chinesischen Perspektive“ zu beleuchten. Ich will mich dabei nicht auf die Gegensätze fokussieren. Viel interessanter ist meines Erachtens, die Themen in Bezug auf eine Schweiz im globalisierten Kontext zu beleuchten.
Caveat: Als China-Experte darf ich mich natürlich (noch) nicht bezeichnen. Es ist die Sicht eines studierten Maschineningenieurs ETH (Zürich) und MIT (USA), Jahrgang 1987, der nun als Projektleiter Operations bei Franke tätig ist. Vorliegende Zeilen wiederspiegeln somit meine ganz persönliche Meinung und sind ehrliche Eindrücke aus ersten Begegnungen und Diskussionen, auch mit Chinesen in meinem Alter.
Der Kontext, das alltäglich Leben in China
Ich arbeite und wohne in Shunde, einer Stadt mit etwa einer Million Einwohnern im Süden von Guangzhou (ehemals Canton) in der Provinz Guangdong. Wichtig ist dies, da Shunde und wahrscheinlich die ganze Provinz durch ihre Vergangenheit als industrielles Herz Chinas relativ weit entwickelt sind. Dies spiegelt sich einerseits in der Mentalität der Menschen, insbesondere der jüngeren Generation. Ich habe sie als sehr offen und neugierig, ambitioniert und fleissig, aber auch als kritisch und nachdenklich wahrgenommen. Andererseits zeigt es sich in der Dynamik des Wachstums, welche sich nicht zuletzt in der Anzahl der im Bau befindlichen Wohnkomplexe äussert, und einer bereits relativ breiten Mittelschicht, welche Auto fährt, Shopping als Freizeitbeschäftigung betreibt und Starbucks-Kaffee trinkt. Kurz gefasst, es mag sich nicht unbedingt um die repräsentativste Stadt in China handeln.
China als Markt für die Schweiz
China ist, wie allen wohl bekannt, ein kommunistisches Land und liegt in den Händen einer sehr starken Zentralregierung. Überraschend könnte deshalb sein, dass das Land wirtschaftlich eine sehr weite Öffnung erfahren hat, womit Wettbewerb und Marktwirtschaft Einzug gehalten haben. Früher war China die verlängere Werkbank der industrialisierten Welt, mehrheitlich aufgrund viel tieferer Lohnkosten. Dabei vergisst man schnell, dass China auch als Markt an sich ein unglaubliches Potential hat. Bereits heute ist China der grösste Automarkt der Welt und viele sehr grosse Unternehmen, die keineswegs alle in Staatsbesitz sind, fokussieren ihre Aktivitäten bislang mehrheitlich auf ihr Heimatland oder sind als OEM (Original Equipment Manufacturer) für internationale Konzerne tätig. In Europa kann teilweise beobachtet werden, wie das schnelle Wachstum Chinas und ein damit verbundenes gestärktes Selbstbewusstsein mit Unbehagen kommentiert wird. Für die Schweiz als kleines Land sind mit einer internationalen Expansion dieser Unternehmen Risiken und Chancen verbunden. Die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Doch nicht nur auf dem internationalen Parkett müssen Anstrengungen eingeleitet werden, welche der Schweizer Wirtschaft längerfristig zugute kommen können. Obwohl die Schweiz innerhalb Europas als Insel betrachtet werden kann, muss sie aufpassen, dass sie früh genug und falls nötig die Geschwindigkeit erhöhen kann, um den (bereits fahrenden) Zug nicht zu verpassen.
Ein imposantes Beispiel: Ein Umzug in ein neues Fabrikgebäude, von Abschluss des Mietvertrags über nötige Renovationsarbeiten bis zur Schlüsselübergabe kann hier in China in etwa 4-5 Monaten bewerkstelligt werden.
Dies lässt mich auf Folgendes schliessen:
1. Vor regulatorischem Eifer in der Schweiz muss deshalb eindringlich gewarnt werden. Nur indem Hürden abgebaut, Investitionen getätigt und hochwertige Bildungsmöglichkeiten angeboten werden, hat die Volkwirtschaft genügend Luft, um sich zu entfalten und die nötigen Risiken einzugehen. Wir alle wollen sichere, den Zweck erfüllende und qualitativ hochwertige Produkte, seien es Nahrungsmittel, Taschenmesser, Bankdienstleistungen oder Maschinen. Dafür soll aber nicht ausschliesslich der Staat sorgen. Besonders mit Blick auf die KMU ist höchste Vorsicht geboten, denn ca. 99 Prozent der Schweizer Unternehmen sind KMU. Die Hauptschlagader der Schweizer Wirtschaft erwirtschaftet zudem etwa 60% des BIP.
2. Wichtig ist meines Erachtens deshalb auch, dass der sekundäre Sektor nicht zu kurz kommt. Klar brauchen wir auch Banken und Versicherungen, aber Dienstleistungen sind extrem mobil und daher kaum tauglich als längerfristige Wirtschaftspfeiler. Nicht von ungefähr basiert das enorme Wachstum in China primär auf der Herstellung von global nachgefragten physischen Produkten.
Auch China erkennt: Bildung ist ein hohes Gut
Schon früh beginnen Eltern für die Schulgebühren ihrer Kinder zu sparen. Private Schulen sind in China weit besser als die staatlichen. Gelernt wird mit unglaublicher Disziplin, vom Instrument über Sport bis zur Schule. Es ist erstaunlich, wie viele junge Menschen fast perfekt Englisch sprechen, eine ihnen in Alphabet und Klang völlig unbekannte Sprache. Ehrlich gesagt: Da sehe ich mit meinen total acht Jahren Französischunterricht „alt“ aus. Vor allem die Bereitschaft zu üben ist allgegenwärtig. Immer wieder werde ich auf der Strasse angesprochen von Leuten, die mit mir einfach nur ein bisschen Englisch reden wollen.
Mein ersten Schlussfolgerungen dazu:
1. Erlerntes Wissen ist gut, aber Können ist besser. Es ist eben nicht nur die Bildung in der Schule, die den Menschen prägt. Viel wichtiger sind die Umgebung und die Möglichkeit, früh verschiedene Erfahrungen zu sammeln. Dazu gehört auch die Möglichkeit, Fehler machen, sich beim Spielen auf der Strasse zu verletzen, mit Freunden Blödsinn auszuhecken und den Eltern Widerstand zu leisten. Dazu kommt die entscheidende Fähigkeit, etwas zu hinterfragen und somit ein Problem zuerst feststellen und dann lösen zu können. Heute tendieren wir dazu, uns zu spezialisieren. Das ist über kurz oder lang sicher auch der richtige Weg. Zu früh eingeschlagen, führt er aber in die Irre. Die Fähigkeit, sich in internationalen Umgebungen und Kulturen zu bewegen, sich in Menschen einfühlen zu können und sich in der komplexen Welt von heute zu behaupten, basiert auf Allgemeinwissen, Erfahrung und Neugier. China ist hier klar im Nachteil holt aber gleichzeitig massiv auf. An der ETH Zürich studieren bereits Dutzende Chinesinnen und Chinesen, die genau diese Maxime befolgen.
2. Doch nicht nur auf akademischer Ebene spielt sich Bildung ab. Das duale Bildungssystem in der Schweiz mit Berufslehre und Fachhochschulen bildet das Fundament unserer Volkswirtschaft. Gerade bei meiner momentanen Aufgabe muss ich immer wieder feststellen, dass ich zwar die grossen Zusammenhänge verstehe und die Theorie auf dem Papier begreife, aber bei der Umsetzung im Detail recht schnell ins Schleudern komme. Wie bringt man Menschen einer anderen Kultur dazu, ein völlig neues Konzept der Betriebsführung zu verstehen und zu verinnerlichen? Ich folge einem Rat von Konfuzius (gilt nicht nur in China): „Erkläre mir, und ich vergesse. Zeige mir, und ich erinnere. Lass es mich tun, und ich verstehe.“
Zudem fehlen in China qualifizierte nicht-studierte Spezialisten. Es wird nicht mehr nur einfache Handarbeit verrichtet. Bedingt durch die rapide Industrialisierung verlangt die Wirtschaft zunehmend auch nach spezifisch geschulten Praktikern (Mechaniker, Informatiker, Kaufleute etc.). Diesbezüglich besteht meines Erachtens grosses Lernpotential für China von der Schweiz.
Der soziale Zusammenhalt, die Bemühungen dazu
Mit dem Wachstum in China haben sich auch die Lebensbedingungen in den letzten paar Jahren stark verändert. Während nun dreissig Jahren hat es die Volksrepublik geschafft, alle zehn Jahre den Lebensstandard zu verdoppeln. Die grösste Legitimation der Zentralregierung ist immer noch die Bekämpfung der Armut durch Wachstum. Ebenso wie im Westen ist jedoch die demografische Entwicklung besorgniserregend. Die Gesellschaft steuert auf eine Überalterung zu.
Dazu ein paar Gedanken und Beobachtungen:
1. Auch wenn die langfristigen Überlebenschancen des Vorsorgesystems in der Schweiz keineswegs nachhaltig gesichert sind, so gibt es immerhin ein System. Ohne AHV/IV-ähnliche Strukturen fokussiert sich in China die Pflege der Alten auf die Familie. Oftmals hüten zum Beispiel die Grosseltern die Enkel, da die Eltern beide arbeiten, so aber auch die Grosseltern unterstützen können. Ein interessantes System, so scheint es mir, denn es ist unabhängig von staatlich geförderten Krippenplätzen. Auf der anderen Seite sieht man aber auch viele ältere Menschen, die immer noch arbeiten und teilweise sogar Schwerstarbeit verrichten. Es kommt auch häufig vor, dass die Familie in einer anderen Provinz wohnt und man sich des höheren Lohns wegen auf Wanderschaft begibt. In diesen Fällen sieht man die Familie vielleicht alle sechs Monate. Eine Nebenerscheinung dieses Phänomens ist, dass soziale Kontakte mehrheitlich über das Mobiltelefon abgewickelt werden. Denn nicht nur mit der Familie zu Hause, sondern auch mit Freunden und Arbeitskollegen lässt es sich auf diese Art und Weise sehr unkompliziert und unverbindlich kommunizieren.
2. Getrieben vom gesellschaftlichen Druck, so viel Geld wie möglich zu verdienen, führt dies teilweise zu asozialen und egoistischen Verhaltensmustern. Eine Art Milizsystem gibt es in China nicht. Das individuelle Vorwärtskommen ist trotz (oder gerade wegen) Kommunismus wichtiger als der Fortschritt der Allgemeinheit.
China ist ein Vielvölkerstaat, der in seinem riesigen Innern über 90 Ethnien und über 25 Sprachen vereinigt. Zudem haben Provinzen wie Macao oder Hongkong eine dezidiert westlichere Prägung erfahren. Diese Komplexität führt immer wieder zu Spannungen und lässt vermuten, dass vielleicht doch nicht ganz China über einen Leisten geschlagen werden kann. Einem föderaleren Staatsaufbau wirkt die Regierung mit aller Kraft entgegen, doch längerfristig ist es vielleicht, ähnlich wie in der Schweiz, das einzig richtige Rezept.
In Ergänzung dazu ist folgende Feststellung zu machen:
3. Wenn man die momentan medial am meisten breitgeschlagenen Themen in beiden Ländern anschaut, dann wird man sich zudem der Bedeutung eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls bewusst. Viele Komponenten desselben, wie Sprache, Kultur und Werte brauchen stetige Pflege. In China steuert dies mehrheitlich die Regierung, unter anderem via Medien. Die Schweiz ist diesbezüglich fortschrittlich, doch der „Röschtigraben“ feiert regelmässig eine Renaissance (Frühfranzösisch). Beide Staaten profitieren vom globalen Handel, im internationalen Kontext ist bei beiden aber auch ein gewisses „Inseldenken“ zu diagnostizieren. Für beide Staaten gilt deshalb, Stichworten wie Toleranz, Offenheit, Chancengleichheit und Menschlichkeit die nötige Beachtung zu schenken.
N.B. zur sozialen Stabilität: Insbesondere der Stimme der Jungen sollte dabei Beachtung geschenkt werden, denn sie haben die Chance und die Pflicht, die Welt von morgen zu formen, wenn man sie denn lässt.
Mein persönliches Fazit: Gegenseitiges Lernen würde Gutes tun
Trotz einem riesigen Grössenunterschied und vielen Differenzen in Bezug auf Mentalität, Staatsaufbau, Kultur und Gesellschaft können die Schweiz und China viel voneinander lernen. Viele Probleme moderner Zivilisationen treten in verschiedenen Ländern auf, so dass sich ein Austausch bezüglich deren Lösung eigentlich anbietet. Wichtig ist aber eben auch, dass in einem Land die Weichen rechtzeitig gestellt werden, um im Hinblick auf globale Entwicklungen wettbewerbsfähig zu bleiben. Dafür ist der Blick über den Tellerrand meines Erachtens unabdingbar.
Wie einleitend gesagt, eine alles umfassende Studie ist dies noch nicht. Doch sind es erste, ehrliche Erkenntnisse eines jungen Menschen, der sich eine offene Schweiz wünscht, die auch in Zukunft erfolgreich positioniert sein soll.
Grundsätzlich sollte man sich überall auf der Welt an die Idee der Freimaurer halten, die sich selbst als rohen Stein betrachten und mit ständiger Arbeit daran über Jahre hoffentlich ein Kunstwerk erschaffen. Die bedeutet einerseits, sich selbst ständig weiter zu entwickeln, legt damit den Fokus auf die eigene Person und betont die Eigenverantwortung. Gerne nehme ich diese Verantwortung wahr.
Ich freue mich deshalb sehr auf Ihre Rückmeldungen, Fragen und Erfahrungsaustausch!