Ohne Zweifel findet sich im fulminanten Aufstieg der SVP von der kleinsten zur wählerstärksten Regierungspartei das wichtigste Kennzeichen der vergangenen eidgenössischen Wahlen. Mit ihrer konsequent europafeindlichen und ausländerkritischen Haltung befeuerte die SVP in den letzten Jahren geschickt diejenigen Sachthemen, die im Zuge der Europa- und Finanzkrise ihrer Wählerschaft besonders unter den Nägeln brannte. Dabei orchestrierte sie die mediale Aufmerksamkeit mit eigenen Initiativen und schärfte ihr Profil als integrationsskeptische und rechtskonservative Partei. Noch ausgeprägter als früher bilden heute diejenigen Bürger das Rückgrat der stärksten Schweizer Partei, die am offensichtlichsten von den negativen Auswirkungen der Globalisierung betroffen sind, nämlich Männer zu Beginn und am Ende des Erwerbsprozesses mit geringen Bildungs- und Berufsqualifikationen aus dem ländlichen Raum. Hingegen hat die Partei bei Wählern mit abgeschlossener Berufsbildung und mittlerem Einkommen an Unterstützung verloren. Unterdessen erweist sich neben der SPS, die sich von der klassischen Arbeiterpartei zur Partei der neuen städtischen Mittelschichten gewandelt hat, zunehmend auch eine andere Gruppierung, nämlich die GLP, als die «GLobalisierungsgewinnerPartei». Ihre jüngere, einkommensstarke und gut ausgebildete Wählerschaft aus urbanen Gebieten bringt offensichtlich all jene Voraussetzungen mit sich, um erfolgreich mit den Herausforderungen einer zunehmend vernetzten und sich rasch wandelnden Wirtschaft und Gesellschaft umzugehen. Auf einem anderen Blatt steht allerdings die prinzipielle Mobilisierbarkeit dieses noch jungen, individualisierten und wenig parteigebundenen Milieus, wenn man sich die Ergebnisse der kantonalen Wahlen im Frühjahr 2015 vor Augen hält.
Während in den 1990er und 2000er-Jahren vor allem die beiden Polparteien links (SPS) und rechts (SVP) auf Kosten der traditionellen (bürgerlichen) Mitte von der Auseinandersetzung um Frage einer prinzipiellen Öffnung der Schweiz profitierten, markiert die Nationalratswahl von 2011 ein vorläufiges Ende dieser steten Links-Rechts-Polarisierung. Anstelle der SVP und SPS legten neue kleine Mitteparteien, wie die BDP und GLP, zu. Dies hat eine zersplitterte, aber insgesamt gestärkte Mitte zur Folge. Hat damit die seit zwei Jahrzehnten fortschreitende Polarisierung mit den Wählerverlusten an den Rändern des politischen Spektrums und dem Aufstieg der neuen Mitteparteien ein Ende gefunden? Es gilt hier zwischen den Positionen der politischen Elite und der Wählerschaft zu unterscheiden. Während die politische Polarisierung zwischen den Parteieliten nach wie vor sehr ausgeprägt ist, präsentiert sie sich unter den verschiedenen Parteiwählerschaften deutlich weniger extrem. Die Wähler links-grüner Parteien positionieren sich eindeutig näher bei der politischen Mitte als ihre gewählten Abgeordneten. Dasselbe gilt für die Wähler rechts-bürgerlicher Parteien. Die Stimmbürger nehmen damit ideologisch gemässigtere Positionen ein als man erwarten könnte. Dies vermag auch eventuelle Wählerwanderungen und Mobilisierungen parteilich wenig gebundener Bürger zu erklären, die von aktuellen Problemlagen getragen einerseits zur Wiederbelebung und andererseits zur Schwächung von Parteien beitragen. Am ehesten lässt sich dieses Phänomen mit den Eigenheiten der schweizerischen Konsensdemokratie erklären. Offensichtlich stören sich die Wähler in politischen Systemen mit Mehrparteienregierungen nicht nur weniger an Parteien und Politikern, die deutlich extremere Haltungen als sie selbst einnehmen. Mehr noch: Die Bürger antizipieren die später notwendige Kompromissbereitschaft der Parteien in der Gesetzgebungstätigkeit bereits bei ihrem Wahlentscheid.
Die fortschreitenden Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse tragen seit geraumer Zeit zur Auflösung ursprünglicher sozialer und kultureller Milieus bei, wodurch die historischen Konfliktlinien zwischen den Konfessionen, Klassen und Regionen an Bedeutung verloren haben. Dies wiederum war eine zentrale Voraussetzung für den Transformationsprozess, der zu einer Konzentration der nationalkonservativen Wählerschaft und damit zum Aufstieg der SVP führte. Zudem brachte diese Umwandlung gesellschaftlicher Spaltungslinien eine Erosion der CVP- und FDP-Basis, den Siegeszug neuer Mitteparteien und den Wandel der sozialdemokratischen Wählerschaft mit sich. Trotz einer insgesamt abnehmenden Bindungskraft der Parteien und einem steigenden Anteil an Wechselwählern, kann von einer generellen Auflösung der Parteineigungen in der Schweiz nicht gesprochen werden. Während bei den traditionellen bürgerlichen Mitteparteien CVP und FDP eine fortlaufende Erosion der Parteiidentifikation sichtbar wird, zeigt sich im rechten und linken Lager eine spezifische Umorientierung der Parteibindungen. Dies drückt vor allem den Wandel der Bindungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen bei den Sozialdemokraten und der SVP aus. In Zeiten der Individualisierung und Säkularisierung der Gesellschaft sowie der Medialisierung, Personalisierung und Emotionalisierung der Politik scheinen individuelle Persönlichkeitseigenschaften für das politische Verhalten immer wichtiger zu werden. Es kann nämlich vermutet werden, dass die nachlassende Prägekraft soziopolitischer Milieus vor allem diejenigen trifft, die für die Kanalisierung ihrer Einstellungen zum politischen Engagement in besonderem Masse sozialer Schubkräfte bedürfen. Fallen diese sozialen Katalysatoren der Umgebung weg, wenden sich manche Schweizer von der Politik und ihren vormaligen Parteien ab. Dies trifft freilich nicht alle Bürger gleichermassen, sondern hängt von ihrer Persönlichkeit ab.
Markus Freitag und Adrian Vatter (Universität Bern)