Vor nahezu 20 Jahren schreckte der Politikwissenschaftlers Robert Putnam mit seiner Diagnose einer schrumpfenden amerikanischen Zivilgesellschaft und den damit verbundenen verheerenden Folgen die Welt auf. Als Folge widmeten sich seither weltweit unzählige Analysten, Chronisten und Feuilletonisten den Entwicklungen des sozialen Miteinanders und diskutieren dessen Wert für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Etikettiert als Sozialkapital äussert sich der Nutzen sozialer Beziehungen für die Wirtschaft in der Senkung marktwirtschaftlicher und unternehmerischer Transaktionskosten. Die Politik verbindet soziales Kapital mit der Funktions- und Leistungsfähigkeit von Demokratien und für die Gesellschaft werden die sozialintegrativen Leistungen der Gemeinschaftlichkeit einem grassierenden Individualismus und Personenkult entgegengestellt. Von den Vorzügen des Gemeinsinns schweizerischer Prägung wusste bereits Friedrich Schiller zu berichten, der mit Stauffachers „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig“ dem Gründungsmythos der Eidgenossenschaft zur Blüte verhalf.
Insbesondere Vereinen und Stiftungen wird das Potential zur Hervorbringung pro-sozialer Normen und zur Stabilisierung von Gemeinschaftlichkeit attestiert. Nach innen tragen Vereine als „Schulen der Demokratie“ zur politischen Sozialisation bei, da sie in der Praxis die Verbindung von Mitgliedschafts- und Staatsbürgerrolle ermöglichen. Zudem agieren Vereine als Plattformen, in denen Bürger eine gemeinschaftsbezogene Kommunikations-, Kooperations- und Hilfsbereitschaft einstudieren können. Nach aussen stellen Vereine die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer pluralisierten Ideenwelt sicher, indem sie vielfältigen Einzelinteressen und Minderheitenpositionen die Chance bieten, sich zu organisieren und Gehör zu verschaffen.
Als ebenso bedeutende Akteure einer vitalen Zivilgesellschaft leisten Stiftungen einen gewichtigen Beitrag zur Förderung des Gemeinsinns und garantieren die gesellschaftliche Vielgliedrigkeit. Stiftungen vermögen Innovationen anzudenken, können Brücken über tiefe Gräben und Schluchten schlagen und unter dem wärmenden Mantel der Toleranz den Meinungsaustausch als Vermittlungsinstanz gegenläufig polarisierter Interessen fördern. Reputation und Legitimation, Besonnen- und Glaubwürdigkeit dienen diesem zivilgesellschaftlichen Akteur als Pfeiler philanthropischen Brückenbauens.
Gemeinwohlorientierte Instanzen sind mehr denn je gefragt, schenkt man den Gesellschaftsdiagnosen jüngeren Datums Glauben, die den sozialen Kitt auseinanderbröckeln sehen. Medialisierung, Individualisierung und veränderte Lebensgewohnheiten fordern die Entwicklung des zivilgesellschaftlichen Miteinanders zunehmend heraus und gefährden mit Nachdruck die Fundamente des sozialen Zusammenhalts. Peter Bichsel gibt den heutigen Zuständen ein Gesicht und übertrug unlängst die Befürchtungen Putnams auf die Schweiz: „Man trifft sich nicht mehr in der Käserei, nicht mehr Samstags beim Dorffriseur, nicht mehr in der verrauchten Dorfbeiz. Man trifft sich nicht mehr auf dem Dorfplatz. Was einmal Öffentlichkeit hiess, verkommt zur Grill- und Partygesellschaft – man bleibt unter sich und trifft ein Leben lang dieselben Leute. Man lebt nicht mehr unter allen, sondern nur noch unter sich. Das ist der Trend, und nicht nur ein schweizerischer, und diesen Trend hat niemand gewollt, der geschieht schleichend und ohne dass wir es bemerken. Und das ist halt so. Ich fürchte nur, dass letztlich Demokratie ohne Öffentlichkeit nicht funktionieren kann, ohne das Gefühl des Zusammenlebens, des Dazugehörens zu allen.“ Kurzum: Der Gemeinschaft wird Stück für Stück der Kontaktboden unter den Füssen weggezogen.
Ein guter Teil dieses wahrgenommenen Verlustes an Gemeinschaftlichkeit wird dem Aufkommen der digitalen Revolution zugeschrieben. Den unbestrittenen Vorteilen der Social Media als unerschöpfliche Quellen von Informationen stehen ernstzunehmende Nachteile der digitalen Welt entgegen: Medien und Verkabelungen legen dem sozialen Austausch von Angesicht zu Angesicht die Schlinge um den Hals, wenn die Informationen aus dem Netz und den Bildschirmen dem nachbarschaftlichen und kollegialem Gang zur Erkundung neuester Neuigkeiten vorgezogen werden. Die Welt ist zum Dorf geworden. Allerdings zu einem Dorf, dem das Gespür für die Gemeinschaft abhanden gekommen ist, da das Internet ortsungebunden operiert und wenig identitätsstiftende soziale Beziehungen generiert. Konkret erfahrbare und gemeinsam geteilte Lebenswelten werden nämlich durch den Chat zwischen Jenny aus Ohio, PerOla aus Uppsala und Reto aus Effretikon nicht etabliert.
Die Daten zur Schweizer Zivilgesellschaft können das düstere Bild der anekdotischen Evidenzen nicht pauschal bestätigen. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung sind in Vereine eingebunden, zwischen 20 und 25 Prozent üben dabei noch eine unbezahlte Tätigkeit zugunsten Dritter aus. Mit Ausnahme eines rücklaufenden Austausches mit den Nachbarn finden wir seit der Jahrtausendwende weiterhin nur wenig Hinweise für einen abnehmenden Rückhalt der Schweizer Bevölkerung im Umfeld des Familien-, Freundes- und Bekanntenkreises. Zusätzlich belegen die Auswertungen ein beständiges Niveau an Vertrauen in die Mitmenschen in der Schweizer Bevölkerung seit Beginn der 1990er Jahre. Im internationalen Vergleich erreicht die Schweiz bei all diesen Gesichtspunkten sozialen Zusammenlebens zudem verhältnismässig hohe Werte und reiht sich damit ohne grosse Ausnahme unter den fünf bis zehn sozialkapitalstärksten Nationen Europas ein. Allerdings lassen sich gegenwärtig durchaus auch ernsthafte Anzeichen eines Niedergangs der Schweizer Zivilgesellschaft erkennen. Dieser äussert sich etwa im Rückgang der generellen Vereinseinbindung seit Beginn der 1970er Jahre oder auch in der stärker hervortretenden Untervertretung der Jugend in zivilgesellschaftlichen Organisationen. Während in den 1970ern unter allen Vereinsmitgliedern noch rund die Hälfte aus den Reihen der 20-39-Jährigen bestand, hat sich der Anteil dieser Alterskohorte heute halbiert. Diese Zahlen können als ein alarmierendes Signal hinsichtlich künftiger Entwicklungen im Vereinssektor und dem damit zusammenhängenden Sozialkapital gedeutet werden: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Auch weisen auch nicht alle Vereinssparten die gleichen stabilen Verläufe auf. Wo Sportvereine einen nahezu unveränderten Bestand über die Jahre aufweisen, haben Interessenverbände, politische Parteien oder auch die Pfadibewegung stärker mit Verlusten zu kämpfen. Hinzu kommt das immer problematisch werdende Unterfangen, politische Ämter auf lokaler Ebene zu besetzen, um so das Milizwesens in Gang zuhalten. Es ist zweifelsfrei etwas Sand im zivilgesellschaftlichen Getriebe der Schweiz, der soziale Kitt scheint an einigen Stellen porös zu werden. Risse tun sich vor allem überall dort auf, wo das spassige Miteinander pro-soziale Verpflichtungen und gemeinwohlorientierte Verbindlichkeiten einfordert. Deshalb frage nicht nur, was die Zivilgesellschaft für Dich leisten kann, sondern auch, was Du zum Gemeinwohl beitragen kannst!
Markus Freitag ist Professor für Politische Soziologie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Seine Gedanken sind im gerade erschienen Buch zum sozialen Kapital der Schweiz beim Verlag NZZ-libro (Artikel vom 15. Juli 2014) nachzulesen. Dort finden sich auch 150 Ideen zur Gestaltung des Gemeinwohls.