In meiner Strasse gibt es vier Einbahnschilder. Sie misst knapp 40 Meter. Bei einer simplen Strassenkreuzung in Aarwangen sind bereits 140 Paragraphen zu beachten. In Winterthur stehen 14 000 Schilder. Wer sich in die Begründung ihrer Daseinsberechtigung vertiefen will, dem empfehle ich die Lektüre der Beantwortung einer Interpellation aus dem Jahre 2013 durch den zuständigen Stadtrat – wahrlich ein Schmankerl!
Nun mögen Verkehrsschilder wenig relevant sein, genauso wenig, wie die endemische Bevormundung durch das Bundesamt für Gesundheit, ob dessen gestrenger Blick nun das Laster des Rauchens, Trinkens oder das des Cervelatverzehrs trifft. Störend bleibt, wenn in städtischen Altersheimen plötzlich vegetarische Tage verordnet werden, weil zu viel Fleisch angeblich der Gesundheit schadet. Wenn Eltern vorgeschrieben bekommen, was sie ihren Zöglingen in die Znünibox zu packen haben, oder mir als Konsumenten, wie viel Zucker ich in den Kaffee schütten darf. Das ist Entmündigung, wenn auch mit gutem Vorsatz, was aber die Sache keinen Deut besser macht. Es ist nicht Aufgabe des Staates, uns vor uns selbst zu schützen.
Monster, keine Papiertiger
Sichtbar wird diese obrigkeitliche Omnipräsenz in einer immer stärker ausgreifenden Verbots-, Belehrungs- und Ermahnungskultur. Was im Kleinen gilt, gilt dabei auch im Grossen. Wie Peter Buomberger in seiner 2014 publizierten Avenir-Suisse-Studie über die Regulierungsdichte in der Schweiz aufzeigt, zählt die systematische Rechtssammlung des Bundes, die nur die Erlasse zum Landesrecht (und ergo nicht jene der Kantone und Gemeinden) umfasst, bereits rund 70 000 Seiten. Das entspricht einer Verdreifachung in weniger als 30 Jahren. Pro Jahr wächst das Kompendium um mehrere tausend Seiten. Pro Woche sind das weit über 100. Wer nun fatalistisch mit den Schultern zuckt und sich nicht angesprochen fühlt, weil er zum Beispiel kein Raucher, sondern Blaukreuzler und Veganer ist: Die Verordnung zur Raumplanung und zum Baurecht etwa, liebe nichttrinkende und der Grillade abholde Eigenheimbesitzer, umfasst ca. 140 000 Paragraphen.
Auf die Unternehmer im Land warten inzwischen tausende Seiten zu Mehrwertsteuer, zu Sozialversicherungsabgaben, zur Arbeitszeiterfassung, zur Hygiene, Ordnung und Sicherheit am Arbeitsplatz, zur Umweltzertifizierung, zur Aus- und Einfuhrkontrolle oder zur gesunden Ernährung und Fitness im Berufsleben. Das Korsett für den misstrauisch beäugten Finanzplatz ist schon länger eng geschnürt. Mit Blick auf die anstehenden Gesetzesnovellen wird es in den kommenden Jahren noch fester zugezogen. Das sind alles keine Papiertiger mehr, sondern Monster – wenn auch aus Zellulose hergestellt.
Pro Jahr 10 Milliarden
Wer nun einwendet, gerade letzteres träfe schon die Richtigen – die «fetten Katzen» eben, die Abzocker, Banker und Spesenritter –, der irrt. Den einzelnen tangiert dieses Wuchern sehr direkt, auch wenn er vordergründig gar nicht betroffen scheint. Sei es als Besitzer, als Arbeitnehmerin, als Rentner, als Kundin, Steuerzahler oder Investorin, vor allem aber auch als Wirtschaftssubjekt in einer kleinen, offenen Volkswirtschaft, die im globalen Wettbewerb zwingend auf gute Standortqualitäten angewiesen ist. Die Krux an der Regulierung ist, dass sie zwar Risiken zu minimieren versucht, potenziell also auch finanziellen Schaden. Aber sie verursacht zunächst einmal Kosten, und das nicht zu knapp. Das Seco hat im Auftrag des Bundesrates Ende 2013 die Folgen der Regulierung für die Schweizer Wirtschaft akribisch untersucht und schätzt die direkte Gesamtbelastung auf rund 10 Milliarden Franken. Pro Jahr, versteht sich. Nun ist nicht einzig die Höhe entscheidend, weil Regulierung im Idealfall auch Nutzen generieren kann. Tatsache ist aber, dass die Schweiz in einschlägigen internationalen Vergleichsstudien schlechter abschneidet, auch weil an die Stelle einer auf Prinzipien basierten Gesetzgebung die regelbasierte getreten ist. Das ist des Pudels Kern: Wir sanktionieren nicht die Ausnahme, sondern regeln den Normalfall so, als wäre dieser die Ausnahme. Was von aussen wie ein feingliedriges Spinnennetz wirkt, entpuppt sich im Zoom als engmaschiger Hochflorteppich.
Nun ist es eine Binsenweisheit, dass die Freiheit des einzelnen dort zu begrenzen ist, wo jene des anderen beginnt. Nur wünschte man sich, dass es für diese simple Gleichung nicht immer mehr Gebote und Verbote bräuchte, sondern wieder mehr Hausverstand, Toleranz und gegenseitigen Respekt. Fehlanzeige! Im Kleinen, Alltäglichen genauso wie im Grossen, Speziellen.
Devoter Gehorsam
Seit Jahren klagt die bürgerliche Seite über den Etatismus der Linken. Der Vorwurf ist berechtigt, wenn auch scheinheilig. Denn er kaschiert bei der Benennung des politischen Gegners, dass dessen durchaus konsistente Haltung – mehr Staat, weniger Freiheit – eine Staatsgläubigkeit postuliert, die inzwischen bis weit ins bürgerliche Lager geteilt und von uns allen auch kräftig befördert wird. Nur so ist erklärbar, dass National- und Ständerat in den letzten vier Jahren den progressiven Anstieg der Regulierungsdichte auf nationaler Ebene munter befördert haben. Ein ähnliches Bild präsentiert sich übrigens auch in vielen Kantonen und Gemeinden. Ob Sicherheit, Landwirtschaft, Gesundheitsprävention oder Familien- und Sozialpolitik: auch bürgerliche Politiker übertragen dem Staat im Zweifelsfall gerne mehr Kompetenzen als weniger, im Wissen um die Popularität des politischen Aktivismus. Und so wächst die Macht und der Einfluss des Kollektiven, Unfassbaren, Anonymen – des vom einzelnen Entrückten.
Dass dies nicht zu Massenprotesten führt, ist eigentlich erstaunlich. Das Gegenteil ist der Fall: Herr und Frau Schweizer, die hier lebenden Ausländer sind explizit eingeschlossen, bündeln inzwischen ihr Altpapier in derart akribischer Weise, dass von devotem Gehorsam selbst beim Recycling gesprochen werden muss. Das Wesen des Schweizers ist eben gespalten. Da ist der Tell in uns, der Tyrannenmörder, der Anarchist, der Revoluzzer. Obrigkeit wird skeptisch beäugt, Schillerndes und Glanz verabscheut, man will seine Ruhe, sich selbst sein, selbstbestimmt leben. Doch dieses Gen wird geteilt mit dem anderen, das zur Anpassung rät, das zum Mittelmass tendiert, das «Ja-nicht-Auffallen» bestärkt, das Unverbindliche und Höfliche dem direkten Wort und der Konfrontation vorzieht. Und Hand in Hand einhergeht mit der passiven Hinnahme einer immer stärkeren Obrigkeitsgläubigkeit.
Nie frei von Obrigkeit
Die Mystifizierung des freiheitsliebenden Eidgenossen, die im Gedenkjahr an die Schlachten von Morgarten und Marignano zeitweise groteske Züge annahm, wird von rechter Seite instrumentalisiert, während sie von links verhöhnt wird. Unbesehen der historischen und ideengeschichtlichen Fragwürdigkeit blendet die politische Bewirtschaftung des Freiheitsmythos die Tatsache aus, dass seit dem frühen Mittelalter das kooperatistische Zusammenleben in den Tal- und Berggenossenschaften der individuellen und wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeit immer schon enge Grenzen gesetzt hat. Die Fixierung auf den Landvogt als Symbol des «ausländischen Richters» verkennt, dass die Abhängigkeiten von Machtgefügen und deren Akzeptanz auch in der Schweiz eine unumstössliche Realität war – und bis heute ist. Mag es auch keinen Adel im europäischen Sinn gegeben haben, «frei» von Obrigkeit waren die allermeisten Eidgenossen nie. Das anzuerkennen ist wichtig bei der Analyse, warum dieses Land durch liberale Tugenden reich geworden ist, sie aber auch immer wieder in Frage stellt und sich so schwer damit tut, mit dem reichen Erbe vieler Freiheiten klug zu wirtschaften.
Friedrich Schillers «Wir erdulden keine Gewalt mehr, wir sind freie Menschen» überhöht als ideengeschichtliches Produkt der Neuzeit die Bereitschaft des Schweizers, mit glühendem Herzen jeder Fremdbestimmung zu trotzen. Das Drama, modern inszeniert auf den Seebühnen im Land, wird heute denn auch von einem Publikum beklatscht, das in seinen politischen Entscheidungen weit mehr Pragmatismus für das real Leb- und Machbare als Sehnsucht nach Widerstand und Selbstbestimmung zeigt. Und folgerichtig immer wieder Ja sagt zur weiteren Beschränkung politischer, gesellschaftlicher oder unternehmerischer Freiheitsgrade, weil – und hier wirkt das Gift des Pragmatismus – man sich direkt weder betroffen fühlt noch erkennt, dass vielleicht nicht der Einzelentscheid für einen selbst einschränkend wirkt, sondern die Verdichtung von vielen solchen Entscheidungen.
Unlust, mit Freiheit umzugehen
Dieser freiheitsbeschränkende Impetus entspricht dem Zeitgeist, wird aber sehr wohl genährt durch eine geschichtliche Tradition, die zu leugnen dem wahren Problem nicht gerecht wird. Auch Herr und Frau Schweizer teilen die in ganz Europa und in allen hochentwickelten Gesellschaften tief wurzelnde gesellschaftliche Unlust, mit Freiheit umzugehen. Kurzum: die Sagengestalt Tell zu bemühen, um weniger Staat zu fordern, wird den Schweizern nicht weniger Staat bringen, wenn sie gar nicht weniger Staat wollen. Es ist wohl richtig, dass diese Aussage konterkariert wird durch die inzwischen schier schrankenlose hedonistische Selbstverwirklichung einer wohlstandsgesättigten Gesellschaft. Aber es ist dies eben nur vordergründig ein Widerspruch. Denn wer individuelle Freiheit gleichsetzt mit unbeschränkt ausgelebtem Hedonismus, der muss zwingend der Ordnung durch das Kollektiv das Wort reden, weil sonst Anarchie droht. So lebt es sich gut, wenn es auch nicht widerspruchsfrei ist: Wir wollen all das, was uns gefällt, aber bitte nichts, was nur anderen einen Nutzen bringt.
So korreliert denn die tiefsitzende Furcht vor Fremdbestimmung mit dem gleichermassen ausgeprägten Hang zum Egalitarismus; so schizophren das auch ist, das Pochen auf Gleichbehandlung aller durch Normierung des Alltags wird als Sicherung der eigenen Freiheit wahrgenommen, nicht als deren Einschränkung. Dazu passt die Mühe mit Eliten, mit Scheitern, mit Risiko und Unsicherheiten.
Und genau hier müsste die liberale Aufklärung mit Vehemenz einsetzen: beim Bürger, beim Individuum, bei unser aller Anspruchshaltung gegenüber dem Staat und den Gütern, die dieser herstellt. Ein Liberaler weiss um die Notwendigkeit der freiwilligen Freiheitsbeschränkung jedes einzelnen zugunsten der möglichst grossen Absenz von zwangsweisen Freiheitsbeschränkungen durch das Kollektiv. Er will einen schlanken Staat und wenig Regulierung, gerade weil er einen starken Staat befürwortet – einen Staat, der zielgerichtet und effizient arbeitet, nicht im Giesskannenprinzip und mit einem alle Eventualitäten einberechnenden Vorsichtsdenken. Unser Verhältnis zu «unserem» Staat gleicht freilich längst dem von Kunden gegenüber einer Versicherungsunternehmung. Nur dass wir uns beim Kollektiv der Prämienhöhe infolge Absenz einer transparenten Rechnung nicht bewusst sind.
Es ist diese gedankliche Schieflage, die besorgt. Und es ist wahrlich kein Trost, dass andere Gesellschaften – etwa die deutsche oder französische – noch ungleich staatsgläubiger sind als die Söhne und Töchter des Gessler-Mörders.
Sind wir Schafe oder Bürger?
Nun sind die Wahlen geschlagen, die Sieger und Verlierer stehen fest. Die Zeit wäre also reif, parteiübergreifend Allianzen zu schmieden, die der Eingrenzung von Freiheiten und Mündigkeit jedes einzelnen vehement Paroli bieten. Die im Wahlkampf vielbeschworene bürgerliche Wende ist dafür kein Garant. Denn nicht jeder, der für sich «bürgerlich» reklamiert, denkt konsequent liberal und ist auch bereit, dafür vor den eigenen Wählern einzustehen. Exemplarisch dafür ist die durch das Stimmvolk angenommene Masseneinwanderungsinitiative, die in letzter Konsequenz nicht nur den ungehinderten Zugang von Schweizer Unternehmen in den europäischen Binnenmarkt bedroht, sondern auch den liberalen Arbeitsmarkt. Beides sind massgebliche Faktoren für den Wohlstand der Schweiz.
Wer aus prinzipiellen Gründen nicht mehr staatliche Fürsorge will, muss bereit sein, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen – und zwar nicht einfach nur dann, wenn es einen gar nicht betrifft oder die Sonne scheint, sondern als ideelle Haltung genauso bei Regen und Sturm. Wer wiederum als Bürger so denkt, darf Politik nicht kurzfristig bewerten, weil dies zu Aktivismus verleitet und exakt nicht zu weniger, sondern zu mehr Regulierung führt. Es braucht die Akzeptanz, dass Fehlentwicklungen auch schaden können, dass nicht alle Risiken zu eliminieren sind, weil der Preis für den Freiheitsverlust zu gross ist.
Diese Denkweise in politische Arbeit zu überführen muss ein Legislaturziel aller Parlamentarier auf Bundesebene sein, die für sich in Anspruch nehmen, «liberal» zu sein. Es würde sie zwingen, effektiv und überprüfbar durch ihr Abstimmungsverhalten ein Staats- und Gesellschaftsverständnis zu stärken, das nicht nur die Freiheit des Individuums postuliert, sondern dieses auch wieder zur Selbstverantwortung zwingt. Wir Bürgerinnen und Bürger wären wiederum aufgefordert, Flagge zu bekennen im Wunsch, nicht wie Schafe geweidet zu werden, sondern Hund und Hirte sein zu wollen. Das heisst in aller Konsequenz, eine Politik zu befördern, die zurückfindet zu Masshalten beim Drang, für alle Eventualitäten sofort eine Lösung erbringen zu müssen. Die sich zähmt im Wunsch, wohlmeinend zu sein. Und die einen Staat befördert, der nicht immer mehr Gouvernante, sondern wieder mehr Nachtwächter ist. Das bedingt freilich von uns allen, auch ein gewisses Mass an Unsicherheit zu akzeptieren. Oder wie es uns die Tell-Sage lehrt: Zum Apfelschuss braucht es Mut.
Dieser Artikel wurde für die Ausgabe Nr. 1031 im November 2015 des «Schweizer Monats» verfasst.